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Gesundheit: Der Historiker als Modernisierer

Hans-Ulrich Wehler zum 75. Geburtstag

An seinem Schreibtisch wird er diesen Tag wohl nicht gerade verbringen. Aber mitten in der Arbeit an dem fünften Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte wird er ihn allemal treffen. Doch das ist Hans-Ulrich Wehler, wie er leibt und lebt,der bedeutende Historiker, der an diesem Montag 75 Jahre alt wird: Wer sonst hätte vor drei Jahren die Vollendung der vier, von 1700 bis 1949 reichenden Bände, die das voluminöse Werk umfassen sollte, statt mit einem erleichterten Seufzer mit dem Fanfaren-Satz begangen: „Und jetzt geht es an die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik“?

Das Werk ist ein beeindruckendes Zeugnis des Anspruchs und der Produktivität, die Wehler zu einer herausragenden Figur des intellektuellen Deutschlands gemacht haben. Nur muss man sich auch noch vergegenwärtigen, wie sehr es herausgewachsen ist aus einem intensiven Leben mit Fach und Zunft. Die bekannten Nenner dafür heißen: „Sozialgeschichte“ und „Bielefelder Schule“ – die eine der Zugang zur Geschichte, den Wehler forciert hat, die andere ein von ihm inspiriertes, viel beredetes Phänomen in der deutschen Geschichtswissenschaft. Doch dahinter steht der Aufbruch einer ganzen Generation, der die Geschichte in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten tief verändert hat.

In diesem Prozess war Wehler eine zentrale Gestalt. Schüler von Theodor Schieder, einer Säule der Nachkriegs-Historie, gehört er zu denen, die der Geschichtswissenschaft seit den 60er Jahren neue Fahrrinnen gegraben haben. Der Vorgang verdient selbst eine historische Untersuchung. Dann erwiese sich, dass es sich nicht nur um einen Paradigmenwechsel handelte, sondern auch um akademische Milieubildung: um das Zusammenzwingen von Historie und Sozialwissenschaft, um die Verknüpfung mit der internationalen Community, um das Spannen von Netzwerken und das Trainieren des Nachwuchses. Wehler, immer in vorderster Reihe, sieht das Ganze heute ohne missionarischem Unterton: man habe einfach die „Gunst der Stunde“ genutzt.

Das Bild der deutschen Geschichtswissenschaft in den letzten drei, vier Dezennien ist jedenfalls ohne Wehler nicht zu denken. Sein Elan hat dazu beigetragen, dass sich das Fach von der Fixierung auf die politische Geschichte löste und zugleich Schritt fasste in einer Gesellschaft im Wandel. Das ging nicht ab ohne heftige interne Auseinandersetzungen. Es begründete nicht zuletzt Wehlers Ruf, dass er dabei der entschiedenste, oft auch polarisierende Kopf war. Das Ausmaß des Streits hat zeitweise fast verdeckt, was für ein produktiver Schub sie begleitete.

Das hat auch mit der intellektuellen Instanz selbst zu tun, die da seit über 30 Jahren aus der „westfälischen Steppe“ – wie Wehler ironisch Bielefeld apostrophiert, dem er so erstaunlich treu geblieben ist – mit Adlerauge auf die deutsche Geisteslandschaft blickt. Denn in dem groß gewachsen Mann, dem man den einstigen Mittelstreckler ansieht, wohnen zugleich Gelassenheit und Temperament. Es gibt Wehler, den Blitzeschleuderer, und den Ackerer im Weinberg der Historie. Es ist wahr, dass seine Debatten-Beiträge oft etwas von dem robusten Einsatz des Handballspielers beim VfL Gummersbach hatten, der er auch einmal gewesen ist. Andererseits ist da der legendäre Leser und Schreiber, der neben seinen Büchern auch noch unentwegt Aufsätze und Rezensionen verfasst, der Dompteur gewaltiger Material-Mengen, der Meister opulenter Anmerkungs-Apparate. Kurz: Zu besichtigen ist eine zeitgemäße, aber stimmige Ausformung des protestantischen Arbeitsethos seines wissenschaftlichen Gottes Max Weber – bis hin zu den calvinistischen Wurzeln seiner Herkunft.

Indes hat der Sozialhistoriker, der die deutsche Gesellschaft hoch rationalistisch analysiert, längst auch die abgründigen Seiten der Moderne im Blick. Die theoretische Überlast von früher hat sich in das glänzende Beispiel einer debattierenden und urteilenden Geschichtsschreibung verwandelt. Die Furcht vor der Relativierung des Nationalsozialismus durch einen konservativen Roll-Back, die er im Historikerstreit beschworen hat, empfindet er heute als Überdramatisierung. Überhaupt ist nun deutlicher als in den bundesrepublikanischen Kampfzeiten zu erkennen, dass hier einer dieser Republik die Stange hält.

Zum Geburtstag seines Stammautors hat sein Verlag ein Gespräch mit Wehler veröffentlicht, das Lebensweg und Werdegang reflektiert (Eine lebhafte Kampfsituation, C.H. Beck). Ein Kapitel Nachkriegsgeschichte blickt uns da an: am Anfang Jungvolk und Wehrertüchtigung, dann mühsamer Alltag, zeitige Amerika-Erfahrungen, der Aufstieg. Das ist der Stoff, aus dem die intellektuellen Leuchtfeuer der Modernisierungsära der Bundesrepublik wurden, die neuerdings „45er“ genannt werden: die Dahrendorfs und Mommsens, die Nipperdeys und Broszats (zu denen, als konservative Gegengewichte, die Fests und Siedlers gehören). Also die politischen Professoren, die in neuer Weise Wissenschaft und Zeitgenossenschaft verbinden. Also die Phalanx der Historiker, die unser Geschichtsbild auf die Höhe der Zeit gebracht haben. Ohne Blick auf diese Generation ist Wehler nicht zu würdigen. Vielleicht bereitet es ihm Genugtuung, dass inzwischen gerade jüngere Historiker diese Leistung anerkennen.

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