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Gesundheit: Der silberne Vorhang

Warum so viele Osteuropäer hinter der Armutsgrenze bleiben

Die Europäische Union wächst. Auseinander. Ivan Szelenyi, Soziologieprofessor der amerikanischen Eliteuniversität Yale, stellte jetzt am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft (OSI) der Freien Universität Berlin seine Studie über Armut in Osteuropa vor. Die Ergebnisse von „Poverty and Social Structure in Transitional Societies“, einer Untersuchung in einem halben Dutzend Ländern mit einer Zeitspanne von zwölf Jahren, sind alarmierend: Über 50 Prozent der befragten Osteuropäer sagten aus, dass es ihnen im Jahr 2000 schlechter ging als 1988. Die Zahl derer, die in extremer Armut leben, also Hunger und Unterernährung leiden, hat sich während der zwölf Jahre auf fünf bis 15 Prozent verdoppelt bis verfünffacht. Szelenyi bringt es auf den Punkt: „Osteuropa erlebt eine Explosion der Armut.“

Das Team des Soziologen befragte Menschen in sechs postkommunistischen Ländern: Bulgarien, Ungarn, Polen, Rumänien, Russland und der Slowakei. 1988, während der ersten Befragung, war die wirtschaftliche Lage zwar schwierig, die Armut aber überschaubar. Die planwirtschaftliche Vollbeschäftigung hatte kaum jemanden reich, dafür aber genauso wenige wirklich arm gemacht. Eine Dekade später: Der Kapitalismus ist da und die Gleichheit dahin. Statt dessen teilt ein Vorhang – aus Geld, nicht aus Eisen – Europa erneut in zwei Lager. In dem einen empfängt die alte Garde Neuzugänge wie Polen und Ungarn (EU-Beitritt 2004, sicher). Trotz zahlreicher Probleme haben es beide geschafft, ihre Armut im Zaum zu halten. Im anderen Lager befinden sich Länder wie Bulgarien und Rumänien (EU-Beitritt 2007, geplant), welche die zurück liegende Dekade des Wandels alles andere als heil überstanden. Lebten 1988 noch rund zwei (Bulgarien) und fünf (Rumänien) von hundert Einwohnern in extremer Armut, trifft dieses Los zwölf Jahre später in beiden Ländern bereits jeden Siebten. „Normal“ arm – also arm, aber nicht unterernährt – sind in Bulgarien im Jahr 2000 bereits 80 Prozent, in Rumänien 69 Prozent der Bevölkerung.

Böser Kapitalismus? Szelenyi beantwortet die Schuldfrage nicht so, wie es sich einige der Zuhörer im OSI vermutlich wünschen würden. Wer dem viel gescholtenen Neoliberalismus die Schuld für die Armutskluft in die Schuhe schiebt, der irrt nach Ansicht des Gelehrten. Nicht der freie Markt sei schuld an der Entwicklung in Bulgarien und Rumänien, sondern seine mangelhafte Umsetzung. Während Polen und Ungarn ihre Wirtschaft seit Jahren konsequent liberalisierten, befänden sich die anderen untersuchten Länder auf Schlingerkurs. „Neopatrimonial“ nennt Szelenyi das Ergebnis (von „Patrimonium“, im römischen Recht das väterliche Erbgut): Trotz freien und privaten Eigentums fungiert Papa Staat nach wie vor als eine Art Obereigentümer.

Szelenyis Ablehnung des Kommunismus ist nicht neu. Bereits Mitte der Siebziger Jahre musste der 1938 geborene Wissenschaftler Ungarn verlassen, nachdem er sein Buch „Intellectuals and the World Class Power“ veröffentlicht hatte. Darin bezeichnet der junge Soziologe den Kommunismus als Diktatur und die Idee proletarischer Herrschaft als Riesenlüge. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt kann er via England und Australien 1981 in die USA emigrieren, seine zweite, akademische Heimat. Szelenyi gilt heute als der weltweit führende Experte für vergleichende historische Soziologie des postkommunistischen Europa.

Warum nun wird die eine Familie Opfer von Armut und die andere nicht? Am Kinderreichtum, einem typischen Indikator für Armut im Kommunismus, liegt es nach Ansicht Szelenyis heute nicht mehr. Entscheidend sei der Grad an Bildung. Ungebildete hätten, anders als noch im Kommunismus, kaum noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt. In Zahlen: Wer in Osteuropa nur über eine elementare Schulbildung verfügt, landet laut Studie mit vier bis fünf mal so hoher Wahrscheinlichkeit unter der Armutsgrenze der Weltbank (4,30 Dollar pro Erwachsenen). Weitere Faktoren seien Herkunft und Geschlecht. Neben allein erziehenden Müttern zählten in Osteuropa vor allem die Roma zu den Verlierern des ökonomischen Wandels.

Felix Serrao

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