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Gesundheit: Der Zorn des Zeitzeugen

KZ-Insassen, Trümmerfrauen, DDR-Bürger: Historiker brauchen die unmittelbaren Erlebnisberichte und müssen sich zugleich von diesen distanzieren

Ist der Zeitzeuge der geborene Feind des Historikers, oder ist der Historiker der Feind des Zeitzeugen? Beide Varianten zeugen von Konflikten, die immer dann aufzubrechen drohen, wenn extreme Ereignisse die Menschen so herausgefordert haben, dass sie sich als Opfer oder Täter empfinden.

Lutz Niethammer, einem der führenden Repräsentanten der deutschen Historiker, die auf mündliche Überlieferung von Zeitzeugen setzen, ist es so gegangen. Als er 1993 an die Universität Jena wechselte, wurde er nach kurzer Zeit in die Auseinandersetzungen um das KZ Buchenwald einbezogen. Das Konzentrationslager Buchenwald war nach dem Ende der Nazi-Diktatur von den Sowjets bis 1950 als Speziallager des NKWD benutzt worden.

Lutz Niethammer berichtete jetzt in Berlin anlässlich des 65. Geburtstages des Historikers und Antisemitismusforschers Wolfgang Benz von der Technischen Universität, zu welchen Konfrontationen die Begegnung mit Zeitzeugen führen kann. Es stellte sich heraus, dass ein Streit um die richtige Erinnerung unter den Opfern ausgetragen wurde, der pathologische Züge anzunehmen drohte. Die Hilfe des Forschers war gefordert. Was fand Niethammer heraus? Die für die Gräuel des Konzentrationslagers verantwortlichen SS-Schergen hätten sich der Kommunisten als Hilfsaufseher (Kapos) bedient. Die Kapos hätten es verstanden, einen Teil der Repressionen im alltäglichen Konzentrationslagerbetrieb von den Kommunisten auf die Ausländer umzulenken. Nach Veröffentlichung dieser Forschungsergebnisse wurde Niethammer vorgeworfen, dass er mit seinen Forschungen Heldenbilder des antifaschistischen Widerstandes zerstört habe und dem westdeutschen Imperialismus diene.

Das war die Kritik von links. Gleichzeitig jedoch hatte Niethammer sich gegen rechts zu rechtfertigen, weil er das NKWD-Lager nach 1945 im Vergleich zum KZ der SS als zweit- und nachrangig bewertet hatte. Nach Studium russischer Archive über das NKWD-Lager Buchenwald hatte Niethammer ermittelt, dass die hohen Todesraten unter nachrangigen SS-Funktionären und potenziellen „Werwölfen“ nicht einer geplanten Vernichtungsstrategie zuzuschreiben waren, sondern Versorgungsengpässen der Nachkriegsjahre. Die Sowjets hatten kein ausgeprägtes Interesse an diesem Lager. Ihr Interesse galt den Kriegsgefangenen, die sie in den Lagern zum Wiederaufbau der Sowjetunion benutzten.

Über ganz andere Erfahrungen mit Zeitzeugen berichtete die Hamburger Historikerin Dorothee Wierling. Sie hatte schon zu Zeiten der DDR Gelegenheit, in den volkseigenen Betrieben Beschäftigte zu befragen. Am 9. November 1989, dem Tag des Falls der Mauer, weilte sie in Israel und hörte von Überlebenden des Holocaust die Aussage: „Jetzt wird man Auschwitz vergessen.“

Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland habe sie das Ende der DDR zunächst als „glücklichen Ausgang einer unglücklichen Geschichte“ begriffen. Neue Perspektiven in Bildung, Freundschaften und menschlichen Beziehungen, Freizügigkeit und Rechtsstaat konnten möglich werden. Aber dann erlebte sie die Reaktion der Betroffenen, die ihre bisherige Lebenserfahrung nicht gewürdigt sahen und in ihren Biografien unerwartete Brüche verkraften mussten: Zwangsentlassung in den vorzeitigen Ruhestand, Arbeitslosigkeit und Abwanderung, den Verlust von Kollegen und Nachbarn. Nach einigen Jahren stellte sie bei Befragungen fest, dass viele ehemalige DDR-Bürger das ersehnte Ende der Mauer nicht mehr als Glück empfanden.

Bei Vorträgen in den neuen Ländern mussten sie auf die im Westen übliche ironische Betrachtung von Ereignissen und intellektuelles Spiel verzichten, weil das als Verletzung missdeutet wurde. Die Zeitzeugen waren Betroffene. Dem Publikum ging es um das Ganze, für sie war es ernst, was der Historiker vom Podium aus verkündete. Die Geschichte erlaubt keine eindimensionalen Antworten, sondern muss sich auf Mehrdeutigkeit einlassen. Die Historiker schwankten zwischen Begeisterung für diese Anteilnahme und dem Gefühl, der Anstrengung angesichts dieser extremen Gegensätze nicht gewachsen zu sein.

Karin Hausen näherte sich ihrem Thema, der Rolle der Trümmerfrau, auf eine andere Weise. Sie fragte: Wie steht es um den Mythos der Trümmerfrau und ihre Vermarktung durch die Medien bis heute? Natürlich haben die Frauen in Abwesenheit ihrer Männer schon während des Zweiten Weltkrieges den Schutt aus den Wohnungen geräumt und die bei Bombenangriffen zerstörten Dächer abgedichtet. Aber nach dem Krieg waren die großen Wirkungsstätten der Trümmerfrauen eigentlich nur Berlin und Dresden, weil in den zerstörten Städten der amerikanischen und der britischen Zone die Westalliierten die Frauen nicht mit so schweren Arbeiten belasten wollten.

Zählungen hätten ergeben, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur 67 000 Frauen auf dem Bau tätig gewesen seien. Im Osten wurde die Trümmerfrau in Denkmälern als Symbol für den künftigen Wiederaufbau gefeiert. Die werktätige Frau passte ins Konzept. Im Westen begannen die Männer bereits in den 1950-er Jahren wieder das Kommando zu übernehmen. Die Frauen wurden als Mütter und treu sorgende Ehefrauen gesehen, nicht als Berufstätige. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Dennoch werde auch im Westen bis heute das Symbol der Trümmerfrau benutzt, wenn zum Beispiel Angela Merkel als Trümmerfrau dargestellt werde, die in der CDU aufräumen müsse.

Uwe Schlicht

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