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Gesundheit: Die Angst der Deutschen

Sorgen um die soziale Sicherheit: Wie sich das Bewusstsein von Jugendlichen und Erwachsenen verändert

Eine 19-jährige Schülerin steht nach dem Abitur vor neuen Herausforderungen: „Bis jetzt waren 13 Jahre geregeltes Schulleben, und danach muss ich mich selber um alles kümmern. Da kann mir im Prinzip niemand helfen. Ich meine, ich kann zum Arbeitsamt gehen oder so. Aber da habe ich jetzt auch nicht so das Gefühl, dass die mir weiterhelfen können. Da war ich jetzt auch schon öfter. Und zu entscheiden, was will ich machen, was studiere ich, studiere ich überhaupt, mache ich eine Ausbildung, wo studiere ich? Das sind alles so Sachen, da hat man schon Angst vor.“

Zitate wie dieses haben Jugendforscher in Interviews für die aktuelle Shell-Jugendstudie gesammelt. Angst ist zu einem dominierenden Gefühl unter Jugendlichen geworden. Solche Phasen gab es auch schon früher. Doch die Angst der Jugendlichen hat andere Ursachen als damals.

Die neue Angst unter den deutschen Jugendlichen ist sehr konkret. An die Stelle der vagen Furcht vor allen Übeln der Welt, die noch in den 1980er Jahren typisch für die Jugendlichen war, ist die konkrete Angst vor der eigenen Zukunft getreten. Das artikuliert ein 22 Jahre alter Student. Er vergleicht die heutige Angst mit der früherer Zeiten: „Vielleicht gibt es auch deshalb nicht mehr so viele Jugendbewegungen, weil auch die Angst sich mehr auf Persönliches richtet und nicht mehr so sehr auf das Kollektive, wie ,wir haben zehnmal so viele Atomreaktoren und Atombomben, die genügen, um das ganze Leben auf der Erde zu vernichten’ und so weiter.“ Ein anderer, ebenfalls 22-jähriger Student glaubt, die unsichere Berufsperspektive führe dazu, dass „die Jugend heutzutage mehr in Angst lebt als vielleicht jemals zuvor in der Nachkriegszeit.“

In der Shell-Jugendstudie, die auf 2532 befragten Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25 Jahren basiert, bringt der Bielefelder Forscher Klaus Hurrelmann die neue Weltsicht auf die Formel: „Eine pragmatische Generation unter Druck.“ Viele haben demnach Angst vor der eigenen Lebensperspektive. Ganz oben steht die Angst vor den Folgen der schlechten Wirtschaftslage und eigener Armut. 68 Prozent der männlichen und 74 Prozent der weiblichen Jugendlichen bekennen sich dazu. An zweiter Stelle stehen die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die Furcht, keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu finden. Diese Angst empfinden 65 Prozent der männlichen und 74 Prozent der weiblichen Jugendlichen. Erwachsene denken ähnlich, wie die neueste Untersuchung des Bielefelder Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer zeigt, die im Januar im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde. Seit der Einführung von Hartz IV haben demnach 51 Prozent Angst vor einem sozialen Abstieg. In der Unterschicht äußert eine Mehrheit der Erwerbstätigen große Angst vor der Arbeitslosigkeit. Sie ist auch bei 40 Prozent der Mittelschicht verbreitet und selbst bei 25 Prozent der Beschäftigten in gehobenen Positionen.

Die Furcht, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen, ist besonders unter Jugendlichen aus den neuen Ländern verbreitet. Das Resultat: Besonders viele 20- bis 30- Jährige verlassen Ostdeutschland – und gehen dorthin, wo es noch Arbeitsplätze gibt. „Bei uns ist kaum einer, der hier bleiben kann“, sagt eine 23-jährige Angestellte. Seit der Wende sind 1,5 Millionen Ostdeutsche in den Westen und Süden der Republik gewandert. Unter den jungen Erwachsenen, die auf Arbeitssuche ihre Heimat verlassen, sind mehr Frauen als Männer. Damit verliert der Osten potenzielle Mütter. Das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung stellt in der jüngsten Ausgabe unter dem Titel „Die demografische Lage der Nation“ fest: „Zwischen 1991 und 2004 haben 513 000 Frauen die neuen Bundesländer verlassen, die meisten davon im besten Familiengründungsalter zwischen 18 und 29 Jahren.“

Den Bewusstseinswandel der Jugendlichen verdeutlicht der direkte Vergleich mit repräsentativen Jugenderhebungen aus dem Jahr 1981: Damals schockierte die Shell-Jugendstudie die Öffentlichkeit, weil erstmals seit Jahrzehnten die Sicht der Jugend auf Gegenwart und Zukunft extrem pessimistisch geworden war. Welche Gründe gab es für diesen Pessimismus? Die Russen hatten Afghanistan besetzt, die USA unter Präsident Reagan im Gegenzug die Sowjetunion zum Reich des Bösen erklärt. Die Bedrohung durch Mittel- und Kurzstreckenraketen konnte Europa in eine atomare Wüste verwandeln. Die düstere Zukunftsprognose des Club of Rome von 1972 wirkte nach, wonach die Rohstoffe, vor allem das Erdöl, im kommenden Jahrhundert immer knapper werden würden und der Umwelt eine Zerstörung ohnegleichen drohte. Hungerkatastrophen wurden vorhergesagt.

Diese Erfahrungen schlugen sich in folgenden Aussagen der Jugendlichen nieder: 56 Prozent befürchten, dass die Menschen durch Computer total kontrolliert werden. 75 Prozent waren der Ansicht, dass Technik und Chemie die Umwelt zerstören werden. 80 Prozent waren der Ansicht, die Rohstoffe werden immer knapper, Wirtschaftskrisen und Hungersnöte könnten ausbrechen. 50 Prozent befürchteten damals, die Welt werde in einem Atomkrieg untergehen. 95 Prozent sagten, es werde kein Ende der Kriege geben. Heute steht selbst die Angst vor Terroranschlägen erst an dritter Stelle, weniger als die Hälfte rechnet noch mit einem Krieg in Europa.

Die Angst der heutigen Jugendlichen führt Hurrelmann auf einen „biografischen Schock“ zurück, auf den die Jugendlichen schlecht vorbereitet seien. „Die meisten kommen aus einer heilen Welt, haben ihre Kindheit in den Wohlstandszeiten der 1980er und 1990er Jahre verbracht mit sozial und wirtschaftlich gut situierten Eltern, zu denen sie eine angenehme Beziehung aufbauen konnten.“

Die wirtschaftliche Krise schlägt sich auch in der Einstellung zu Politik und Demokratie nieder. Scharf fällt die Kritik an den Parteien aus. 41 Prozent der Jugendlichen trauen es den bestehenden Parteien in Deutschland nicht zu, die Probleme des Landes am besten lösen zu können. Die Politiker seien nur daran interessiert, gewählt zu werden und nicht daran, was die Wähler wirklich wollen; oder die Politiker kümmern sich nicht darum, was die Leute denken. „Der Bezug der Jugendlichen auf Politik und Gesellschaft wird maßgeblich durch die Möglichkeit geprägt, adäquate Arbeitsplätze zu besetzen", sagt Hurrelmann.

Erwachsene teilen auch hier weitgehend die Einstellung der Jugendlichen. Nach der Studie von Wilhelm Heitmeyer sind heute 66 Prozent der befragten Erwachsenen der Ansicht, keinen Einfluss darauf zu haben, was die Regierung tut. Heitmeyer kommt zu den Schluss: „Viele Menschen wissen nicht mehr, nach welchen Regeln in dieser Gesellschaft gespielt wird: Das fängt bei der schlichten Frage an, nach welcher Logik Unternehmen hohe Gewinne einstreichen, aber zugleich angeben, Tausende Mitarbeiter entlassen zu müssen.“

Man sollte sich nicht durch die Unterschichtdebatte und die Wahlerfolge der NPD im Osten von dem eigentlichen Problem ablenken lassen, warnt Heitmeyer. Das eigentliche Problem seien die gewichtigen Verschiebungen in der politischen Mitte. „Die Mitte trägt schließlich aufgrund ihrer Breite wesentlich zur Erzeugung der Normalitäten, also auch von feindseligen Normalitäten bei.“

Uwe Schlicht

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