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Gesundheit: Die Pflanze als Chemiefabrik

Von Hartmut Wewetzer „Ein merkwürdiger Gifthauch kroch über das Gebiet, und alles begann sich zu verändern. Eine Art böser Fluch lastete auf der Gemeinschaft: geheimnisvolle Krankheiten rafften die Hühner dahin; Kühe und Schafe erkrankten und starben.

Von Hartmut Wewetzer

„Ein merkwürdiger Gifthauch kroch über das Gebiet, und alles begann sich zu verändern. Eine Art böser Fluch lastete auf der Gemeinschaft: geheimnisvolle Krankheiten rafften die Hühner dahin; Kühe und Schafe erkrankten und starben. Der Schatten des Todes war überall. Die Bauern klagten über viele Krankheiten in ihren Familien."

Gifthauch, Fluch und Tod - hinter diesen Wendungen versteckt sich nicht etwa ein biblisches Verhängnis, sondern ganz profane menschliche Machenschaften: Umweltverschmutzung durch Chemikalien. Die Zeilen stammen von der Biologin Rachel Carson. Sie finden sich in Carsons 1962 erschienenem Bestseller „Der stumme Frühling“, einem frühen Manifest der Umweltbewegung.

Zwar sind die apokalyptischen Prophezeiungen Rachel Carsons nicht eingetroffen. Geblieben ist aber die Furcht vor Chemie, vor allem vor dem krebserregenden Potenzial der Pestizide und anderer Chemikalien.

Auch beim Nitrofen-Skandal stand die Krebsgefahr für die Öffentlichkeit im Vordergrund; die Vokabel „krebserregend“ scheint wie eine magische Formel die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dabei liegt im Falle des Nitrofens die Hauptgefahr in der fruchtschädigenden Wirkung schon bei vergleichsweise geringen Dosen; dagegen erfolgten die Tierversuche, mit denen das Krebsrisiko nachgewiesen wurde, mit extrem hohen Dosen über lange Zeit.

Umfragen zufolge meinen viele Menschen, dass Krebs vor allem durch Umweltverschmutzung ausgelöst wird. Glaubt man der weitgehend einhelligen Meinung der Krebsforscher, ist das aber gar nicht der Fall. An erster Stelle der Krebsrisiken stehen dagegen das Rauchen (mindestens 30 Prozent aller Todesfälle durch Krebs) und der Komplex Fehlernährung – zu kalorienreiche, fette und fleischreiche Ernährung, zuwenig Obst und Gemüse –, Übergewicht und Bewegungsmangel (etwa jeder dritte Todesfall durch Krebs). Diese Zahlen nennt der aktuelle Bericht der amerikanischen Krebsgesellschaft.

Neben diesen besonders wichtigen Risikofaktoren gibt es eine Reihe „mittlerer“ Gefahren. Dazu zählen etwa Infektionen – jeder zehnte Fall von Krebs soll durch einen Mikro-Organismus hervorgerufen worden sein –, Alkohol (drei Prozent), Sexualverhalten und Geburten (sieben Prozent), Sonne und radioaktives Radon aus dem Boden (drei Prozent) sowie berufsbedingte Ursachen (vier Prozent). Diese Angaben machen die Krebsforscher Richard Doll und Richard Peto in einer 1981 erfolgten Schätzung für die USA. Auch spätere Untersuchungen kamen zu ähnlichen Schlüssen.

Umweltverschmutzung ist laut Doll und Peto für zwei Prozent aller Krebstodesfälle die Ursache, an erster Stelle steht hier die Luftverschmutzung. Pestizidspuren halten die beiden Wissenschaftler für „unwichtig“. Die von allen Studien mit Abstand höchste Risikoprognose für Pestizide in der Nahrung gab die amerikanische Umweltschutzbehörde EPA ab: danach könnten zwischen 0,5 und ein Prozent aller Krebstodesfälle durch Pflanzenschutzmittel verursacht sein.

Bereits der deutsche Arzt Paracelsus wusste vor rund 500 Jahren, dass die Dosis einer Substanz über ihre Gefährlichkeit entscheidet. Hoch dosiert ist selbst Kochsalz krebserregend, obwohl wir es eigentlich zum Leben brauchen.

Große Mengen eines Pflanzenschutzmittels können im Tierversuch Krebs auslösen, während sie in sehr niedriger Konzentration keinen beobachtbaren schädlichen Effekt haben. Ist der Stoff in niedriger Dosis also harmlos? Oder gibt es keine Schwelle, von der ab die Gefahr beginnt?

Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko durch Pestizide ergaben Studien an Landwirten und Chemiearbeitern. Aber das Risiko ist nicht „eindeutig“, wie Aaron Blair von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA berichtet. Aus Vorsorgegründen müsse es darum gehen, die Gefahr so weit als möglich gering zu halten.

Nach Angaben der amerikanischen Krebsgesellschaft darf das „akzeptable“ Risiko durch ein Pestizid nicht höher liegen als bei einem Krebsfall mehr, bezogen auf eine Million Menschen.

Seit der „stumme Frühling“ Furore machte, hat sich einiges geändert. Pflanzenschutzmittel müssen heute strenge Prüfungen vor der Zulassung durchlaufen. Laut deutschem Pflanzenschutzgesetz soll das Mittel nicht nur wirksam sein, sondern darf „keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier und auf das Grundwasser haben“. Aber auch das schützt nicht vor fahrlässigem Verhalten wie dem in Mecklenburg-Vorpommern, bei dem das verbotene Nitrofen „versehentlich" aus einem Speicher in das Korn gelangte.

Aber nicht nur Menschen produzieren Pestizide. Auch die Pflanzen selbst schützen sich mit Hilfe chemischer Stoffe gegen ihre Fressfeinde – schließlich können sie nicht weglaufen und wären ihren Gegnern andernfalls schutzlos ausgeliefert. Ein krasses Beispiel ist Aflatoxin, das für den Menschen am meisten krebserregende Pestizid. Es wird von Pilzen gebildet, die auf Erdnüssen, Getreide und Mais sitzen können.

Kaffee enthält etwa 1000 verschiedene chemische Substanzen, von denen rund 30 auf ihre krebserregende Potenz bei Mäusen und Ratten getestet wurden. 21 dieser Stoffe lösten Tumoren aus. Ingesamt sollen nur 79 von ungefähr 10000 natürlichen Pestiziden auf Krebs geprüft worden sein.

„Es könnte sein, dass natürliche Bestandteile der Ernährung das Krebsrisiko stärker erhöhen als künstliche“, lautet das Resümee einer Expertenkommission des Nationalen Forschungsrats der USA. Aber es sei in der Praxis extrem schwierig, das Risiko durch die Nahrung einzuschätzen, denn alles, was wir essen, besteht aus einem Gemisch vieler verschiedener Stoffe.

Sollen Kaffee und andere Naturprodukte nun verboten werden? Nein, denn nach wie vor gehen die größten Gefahren nicht von Spuren potenziell giftiger Substanzen aus, sondern von der Tatsache, dass wir zu reichlich und zu fett essen. Und schließlich enthalten insbesondere Obst und Gemüse auch viele Substanzen wie Pflanzenfasern, Vitamine und andere „Mikronährstoffe“, die vor Tumoren schützen können. Der Nutzen überwiegt die Risiken durch Spuren von Pestiziden bei weitem. Mit oder ohne „Bio“.

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