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Gesundheit: Die Qual der Zahl

Zwei Wissenschaftler haben ihre Studienanfänger in Mathematik getestet – und sind schockiert

Diese Aufgaben waren Teil eines Mathematiktests für Studienanfänger an der Freien Universität Berlin. Seit über zwanzig Jahren testen wir mit genau den gleichen Aufgaben alle vier bis sechs Jahre die Mathematikkenntnisse der neuen Studenten, die Wirtschaftswissenschaft als Fach gewählt haben. Nach unseren Beobachtungen sind die Fähigkeiten der Abiturienten in Mathematik in diesen zwei Jahrzehnten immer schlechter geworden. Doch die jüngsten Ergebnisse stellen einen neuen Negativ-Rekord dar. Sie sind katastrophal.

193 Studierende nahmen teil. Ziel war es, das Eingangswissen in der Elementarmathematik zu überprüfen. Innerhalb von 20 Minuten mussten die Studienanfänger insgesamt 26 Aufgaben aus folgenden Gebieten lösen: Klammerrechnung, Bruchrechnung, Binomische Formeln, Potenz- und Wurzelrechnung, einfache lineare und quadratische Gleichungen und Ungleichungen.

Diese Themen werden teilweise schon ab der 6. Klasse, auf jeden Fall aber bis zum Abschluss der 10. Klasse behandelt. Es steht außer Frage, dass solide Kenntnisse in diesen Bereichen der Elementarmathematik Voraussetzung für einen erfolgreichen Studienbeginn auch in nichtmathematischen Studienfächern sind, so zum Beispiel in den Fächern Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, in denen das Fach Mathematik mit einer Klausur abzuschließen ist.

Hier einige Kostproben angebotener Lösungen zu den obigen Aufgaben:

Zu (1): Hier gab es ein breites Angebot an falschen Lösungen, weil die Regel „Punktrechnung geht vor Strichrechnung“ von vielen nicht beachtet wurde,

Solche Fehler haben nicht mehr allein mit mangelnden Fertigkeiten bei Anwendung von Rechenregeln zu tun. Den Studenten mangelt es offenbar an jeglichem Gespür für die Größenordnung von Zahlen. So erkannten manche nicht, das sieben Drittel „etwas mehr“ als 2 ist und nicht größer als 6 oder kleiner als 1 sein kann. So auch bei 0,125, wo der Zähler des Bruches kleiner als der des Nenners sein muss. Es darf die Frage erlaubt sein, ob jemand, der überhaupt kein Verständnis für die Größenordnung von Zahlen hat, für ein Studium geeignet ist.

Zum Thema Größenordung von Zahlen noch ein Beispiel: In meiner Vorlesung des Grundstudiums fordere ich die Studenten regelmäßig zu einem Schätzwettbewerb heraus. Dabei müssen sie bestimmte Parameter von Merkmalen schätzen, wie Anzahlen, Längen und Gewichte.

Als Anreiz winken Preise für die besten „Schätzer“ und „Schätzerinnen“. So war zum Beispiel die Länge des Hörsaals zu schätzen, in dem die Studierenden saßen. Der Hörsaal ist 22,5 Meter lang. Extreme Schätzungen waren 175 Meter und 100 Meter, eine ganze Reihe von Studierenden lag bei 85 Meter und knapp darunter. Das waren keine Scherzbolde, wie sich herausstellte.

Wie schnitten die Studenten nun im Einzelnen beim Mathematiktest ab? Der Test wird als nicht bestanden gewertet, falls von den 26 Aufgaben weniger als 13 richtig gelöst sind. Die Durchfallquote betrug in diesem Jahr 72,5 Prozent. Ungenügende Kenntnisse mit weniger als zehn richtigen Antworten haben 50,3 Prozent. Und immerhin noch zehn Prozent der Studierenden haben weniger als vier richtige Lösungen. Das arithmetische Mittel beträgt 10,1, und der Median ist gleich 9. Alle Aufgaben richtig gelöst hat nur eine einzige der 193 Studierenden, eine Studentin aus China. Keiner hatte 25 richtig gelöste Aufgaben, und nur jeweils zwei lösten 23 beziehungsweise 24 Aufgaben richtig. Ein solches Ergebnis löst dann bei den Studierenden (verlegene?) Heiterkeit aus.

Wie gesagt: Wir führen diesen standardisierten Test seit 1982 regelmäßig alle paar Jahre durch. Zu Beginn lag die Durchfallquote noch bei 30 Prozent. Von Test zu Test stieg sie um sechs bis neun Prozent. Im Sommersemester 1994 lag sie bei 60,6 Prozent, im Sommersemester 1998 bei 66,7 Prozent. Es scheint prognostizierbar, wann die Durchfallquote 100 Prozent erreicht.

Schlüsseln wir die Ergebnisse separat nach einigen mit dem Test erhobenen Variablen wie Geschlecht, Schultyp, Bundesland der Hochschulreife und Teilnahme am Leistungskurs in Mathematik auf, so können wir feststellen: Die Durchfallquote liegt bei den Studentinnen um etwas mehr als zehn Prozent höher als bei den Studenten, auch im Mittel haben die Studenten zwei Aufgaben mehr richtig gelöst. Ein Trost für die Studentinnen mag sein, dass die beste aus ihren Reihen kommt.

Beim Schultyp mit seinen verschiedenen Ausprägungen können wir auf Grund der Fallzahlen nur die beiden Kategorien „Gymnasium“ und „Gesamtschule“ sinnvoll miteinander vergleichen: Während die Durchfallquote bei den Gymnasiasten bei 71,8 Prozent lag und damit ungefähr dem Wert 72,5 Prozent über alle Schultypen entspricht, war die Durchfallquote bei den Gesamtschülern mit 85,7 Prozent deutlich höher. Das Bundesland, in dem die Hochschulreife erlangt wurde, hatte keinen signifikanten Einfluss auf das Testergebnis.

Es überrascht nicht, dass die Teilnehmer mit Leistungskurs in Mathematik (43 von 193) besser abschneiden: Hier lag die Durchfallquote bei 39,5 Prozent gegenüber 82,3 Prozent bei denjenigen ohne Leistungskurs. Unter den Teilnehmern mit Leistungskurs hat ein/e Student/in mit der Abiturnote 3 in Mathematik nur eine Aufgabe richtig gelöst, ein/e Student/in mit der Note 2 vier Aufgaben und ein/e Student/in mit der Note 1 (!) hatte den Test gerade einmal mit 15 richtig gelösten Aufgaben bestanden. Auch das ist nicht gerade berauschend.

In den letzten Jahren gingen immer wieder Horrormeldungen über schlechte Mathematikkenntnisse von deutschen Schülern und Schülerinnen der verschieden Schultypen durch die Presse. Erwähnt seien hier nur die vergleichenden Studien „Timss III“ (Third International Mathematics and Science Study) und Pisa 2000 (Programme for International Student Assessment). Diese Befunde decken sich voll mit unseren Erlebnissen mit dem Mathematiktest.

An der Freien Universität versuchen wir den Studienanfängern mit unserem zehnstündigen „Brückenkurs Mathematik“ zu helfen. Die Teilnehmer testeten wir am Ende des Kurses mit Aufgaben vom Typ des Eingangstests. Und siehe da: Nur noch 35,2 Prozent hatten die Note mangelhaft und 23,5 Prozent die Note ungenügend. Das arithmetische Mittel der richtig gelösten Aufgaben beträgt nun 14,5 und der Median ist 15. Immerhin hatten nun drei Studierende alle Aufgaben richtig gelöst.

Diese Verbesserung löst wahrlich keinen Jubel aus. Sie spricht jedoch für einen solchen einwöchigen Brückenkurs, der die Defizite in der Elementarmathematik zumindest teilweise beseitigt. Das ist doch schon irgendwie ermutigend. Einen besseren Unterricht in der Schule kann der Kurs aber natürlich nicht ersetzen.

Herbert Büning ist Professor für Statistik am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität, sein Assistent, Andreas Göhler, unterrichtet den Brückenkurs Mathematik mit ihm im Wechsel.

Herbert Büning, Andreas Göhler

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