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Gesundheit: Die zweite Chance

Von Juliane von Mittelstaedt „Ich habe viel geschwänzt und war ganz schön faul", sagt Jessica. Sie ist in der neunten Klasse sitzengeblieben und hatte „null Bock auf Schule".

Von Juliane von Mittelstaedt

„Ich habe viel geschwänzt und war ganz schön faul", sagt Jessica. Sie ist in der neunten Klasse sitzengeblieben und hatte „null Bock auf Schule". Ihre Prognose an der Gesamtschule: Keine Chance. Sie wäre wohl ohne Schulabschluss geblieben - gäbe es da nicht das „Produktive Lernen". Die 16-Jährige wechselte auf die Schöneberger Waldenburg-Oberschule - anders als der suggeriert eine Hauptschule - und nimmt dort als eine von 30 Schülern und Schülerinnen an einem Schulversuch teil.

„Vorher wusste ich gar nicht, was ich mal machen will", berichtet Jessica. Doch nach einem Praktikum im Kindergarten ist ihr Selbstbewusstsein gestiegen: „Ich will Erzieherin werden." Ein anderes Ergebnis des Schulwechsels: „Schule macht wieder Spaß." Herbert Kroll, einer von drei Lehrern in dem Schulversuch, erläutert das Konzept: An drei Tagen pro Woche stehen die Schüler im „Berufsleben" – bei der Altenpflege, im Kinderladen oder im Rechtsanwaltsbüro. Überall dort hat Emmy „hineingeschnuppert", und wenn die 17-Jährige im Sommer ihren Abschluss macht, dann weiß sie, was sie werden will: Rechtsanwaltsgehilfin.

Ein Praktikum absolvieren die Schüler in jedem ihrer sechs Trimester; eine strikte Trennung zwischen neunter und zehnter Klasse gibt es nicht. Sie schreiben wöchentliche Praktikumsberichte und merken: „Ohne Rechtschreibung und Rechnen geht es nicht". Am Ende gibt es Zeugnisse – ausgestellt von den jeweiligen Chefs, die hier „Mentoren" heißen. Die Lehrer helfen den Schülern bei Bewerbungen, üben mit ihnen, wie Vorstellungsgespräche ablaufen und schicken sie zu „Stadtralleys" in den Bezirk. Dann heißt es: Ab ins kalte Wasser und beim Chef vorstellen. Das Konzept geht auf. Die meisten Jugendlichen wissen am Schluss, was sie werden wollen. Und rund 25 von 30 Schülern schaffen den erweiterten Haupt-, zwei sogar den Realschulabschluss, obwohl sie vorher zu den hoffnungslosen Fällen zählten – oftmals „nach unten durchgereicht von den Gymnasien und Realschulen zur Hauptschule", erzählt Lehrer Rainer Finke.

Neben der praktischen Tätigkeit ist an zwei Tagen Unterricht angesagt: Englisch und Mathematik. Mehr nicht. Die restlichen Inhalte – Biologie, Physik, Chemie - erarbeiten sich die Schüler in „Lernbereichen" selbstständig, recherchieren im Internet und nehmen oft zum ersten Mal ein Fachbuch in die Hand. Kurzum: Jeder schneidert sich einen individuellen Lehrplan zusammen, wie das auch an skandinavischen Schulen üblich ist. Das sieht dann so aus: Der Schüler, der gerade Praktikum beim Tierarzt macht, referiert über Säugetiere; die Schülerin im Frauenarzt-Praktikum über Schwangerschaft. Zusätzlich können sie als Pflichtfach Kochen, Kreatives Schreiben oder Kunst wählen.

„Die wichtigsten Anstöße liefert die Praxis, normalen Frontalunterricht gibt es bei uns nicht", erläutert Rainer Finke. Sein Kollege Kroll ergänzt: „Die Zusammenhänge entstehen nicht, weil Lehrer sie vorgeben, sondern die Schüler bringen sie aus ihrer Praxis mit." Im Mittelpunkt steht nicht enzyklopädisches Fachwissen, sondern Praxiserfahrung, Teamwork und selbstständiges Arbeiten - kurz „Lebensfähigkeit“. Und die Berufspraxis macht neugierig darauf.

Was sonst im abstrakten Unterricht sofort wieder vergessen werde, bleibe auf diese Weise hängen, berichten die Lehrer. „Die Schüler lassen sich nicht nur berieseln.“ Fünf Stunden pro Woche sind für die „Kommunikationsgruppe" reserviert. Hier berichten Jugendliche aus ihrem Alltag im Betrieb, über Probleme und Erfolge. Möglichst einmal wöchentlich besuchen die Lehrer ihre Schützlinge im Praktikum, beraten sie und sprechen mit den Mentoren. Die Neuntklässlerin Jenny: „Die Lehrer kümmern sich um uns und erklären alles nochmals, wenn wir es nicht verstanden haben.“

Keine Schmierereien

Ein zweiter Schulbesuch: Durch die Gänge ist schon von weitem die Kreissäge zu hören. Wenn man dem Lärm durch die blau-weißen Flure folgt, trifft man auf Ali und Fadi. Ali hämmert, auf einer Leiter schwankend, konzentriert Nägel in ein Holzpaneel. Gegenüber legt „Malermeister" Fadi die Stirn in Falten und zieht sorgfältig eine blaue Linie mit dem Pinsel. Im hinteren Teil des Raumes fliegen Sägespäne und Holzteile poltern zu Boden. Ali und Fadi sind in der neunten Klasse der Wilhelm-Busch-Schule in Mitte, einem sonderpädagogischen Förderzentrum für berufsorientierendes Lernen. Sie nehmen ebenfalls am Versuch „Produktives Lernen" teil.

Um die Geschichte von Ali und Fadi richtig zu erzählen, muss man früher anfangen: Vor zwei Jahren stellte das Bezirksamt Mitte der Wilhelm-Busch-Schule das Gebäude als „Außenstelle" zur Verfügung. Es war, so der Lehrer und Maschinenschlosser Walter Griep, „eine einzige Ruine". Die Lehrer gründeten die Schülerfirmen „Haustechnik", „Textilwerkstatt" und die bunte Cafeteria „Fantastic". Dreimal wöchentlich tauschen die Schüler ihre Schulbücher nun gegen „Blaumänner“. Auf diese Weise haben sie ihr Gebäude in Schuss gebracht. Wer durch die Flure geht und den Kopf in die Klassenzimmer steckt, wundert sich: gar nichts beschmiert! „Nein“, sagt Griep, „die Schüler sind sogar richtig sauer, wenn jemand etwas kaputtmacht, was sie selber gebaut haben.“

Ergänzt wird dieser Einsatz durch „echte Arbeit" einmal pro Woche im Praktikum. Zum Lerneffekt gehört, so Hirsch-Mirre, dass man pünktlich zur Arbeit kommt oder nicht einfach fehlen darf. Selbstverständlich eigentlich – aber für viele der Schüler hier eben nicht. Nicht wenige sind Scheidungs- und Heimkinder, Opfer familiärer Gewalt oder haben Eltern mit „Alkoholikerkarriere". Kurz: Sie kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Sechs von zehn Jugendlichen hier sind Ausländer. Die meisten dieser Schüler wurden von ihren früheren Lehrern bereits „abgeschrieben“. Wer schwer lernt, ist in traditionellen Bildungseinrichtungen häufig in der Sackgasse. Aber an der Wilhelm-Busch-Schule werden in diesem Jahr vermutlich 12 von 16 Schülern den Hauptschulabschluss schaffen. Mit den üblichen Unterrichtsmethoden wären es wohl nur zwei.

Zwei Schulen, eine Idee - doch was ist eigentlich „Produktives Lernen“? Jens Schneider ist Mitbegründer und Leiter des „Instituts für Produktives Lernen in Europa“ (IPLE), erklärt es als „Lernen in gesellschaftlichen Ernstsituationen“. Unterricht soll praxisorientiert und orientierend, also für die Jugendlichen „persönlich sinnvoll“ erfahrbar sein. Dieses Konzept setzte er gemeinsam mit der Pädagogin Ingrid Böhm um, nachdem er sich in den 80er-Jahren in New York von dem Konzept der „Stadt-als-Schule“ inspirieren ließ.

Ziel: Bester Lehrer ist das Leben

1996 starteten die beiden das Projekt „Produktives Lernen an Berliner Schulen“ (PLEBS) an zunächst fünf, später an zwölf Schulen sowie drei Jugendbildungsstätten. Damals trafen sich Jens Schneider und die Pädagogen Griep, Hirsch-Mirre, Kroll und Finke. Schneider bot den Lehrern ein praxisorientiertes Schulprojekt an, das vom IPLE unterstützt werden würde, inklusive projektbezogener Beratung und Weiterbildung der Lehrer. 100 000 Euro pro Jahr und Schule steuerte der Europäische Sozialfonds (ESF) für „Ergänzungsleistungen“ wie Computer, Bücher und Lehrmaterialien bei. Und die Lehrer stimmten zu. Seitdem unterrichten an der Wilhelm-Busch-Schule sechs, an der Waldenburg-Oberschule drei Lehrer nach dieser Methode. Die Konzepte unterscheiden sich zwar in Durchführung und Schwerpunktsetzung - Schülerfirmen hier, Firmenpraktika dort - aber sie verfolgen ein gemeinsames Ziel: Bester Lehrer ist das Leben.

Den Erfolg bestätigen die Zahlen: Zwei von drei Schülern schafften so den Hauptschulabschluss, jeder Zweite geht danach direkt ins Berufsleben (Ausbildungs- oder Arbeitsplatz). „Obwohl den meisten von ihnen Misserfolg und Maßnahmenkarrieren prophezeit worden sind“, frohlockt Schneider. Trotzdem endet der Schulversuch an den Hauptschulen im Sommer diesen Jahres.

Dabei ist das Projekt nach der einmaligen Anschaffung von Materialien nicht teurer. Im Gegenteil, so Schneider, „der Senat spart Kosten, die sonst durch Sitzenbleiben und Wartezeiten entstehen“. 3500 Euro veranschlagt ein Gutachten des Instituts dafür.

Für die Lehrer steht trotzdem fest: „Wir machen weiter!“ Sie haben beim Senat beantragt, das „Produktive Lernen“ als Regelangebot zu übernehmen. Aber die Senatsschulverwaltung will zunächst ein neues Schulgesetz auf den Weg bringen. Erst dann sei der rechtliche Rahmen gegeben. Wie lange das wohl dauert? Die Lehrer Kroll und Finke zucken ratlos mit den Schultern.

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