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Gesundheit: „Ein starker Erinnerungstopos“

Der Historiker Peter Steinbach sieht den Film „Die Flucht“ als Chance

Herr Steinbach, Sie sind einer der Historiker, die die ARD zum Film „Die Flucht“ beraten haben. Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Unter dem Strich ja. Allerdings kann man darüber diskutierten, ob die Einbindung einer Liebesgeschichte historisch angemessen ist. Das filmische Konzept birgt alle Chancen der Verdichtung – und auch alle Gefahren, die sich aus Assoziationen ergeben. Der Film neigt dazu, individuelle Schicksale vom historischen Kontext abzukoppeln. Ich bin allerdings der Meinung, dass einige Bilder historisch sehr dicht sind. Es kommt bei solchen Filmen darauf an, dass Bilder Erinnerungsbezüge schaffen.

In welcher Szene gelingt das?

Sehr eindrucksvoll ist die Flucht über das vereiste Haff, eine Szene mit 600 Statisten. Das ist ein starker Erinnerungstopos, vergleichbar mit dem Untergang der „Gustloff“. Solche Bilder vermitteln schlaglichtartig Geschichte. Für Historiker ist es interessant, wie Geschichtsbilder medial vermittelt werden. Man kann solch einen Film nicht wie eine wissenschaftliche Abhandlung kritisieren. Vielmehr funktioniert er als Augenöffner und Türöffner für das kollektive Gedächtnis.

Dem Film wird jedoch vorgeworfen, das Thema Flucht und Vertreibung zu leicht und zu schön zu behandeln. Dieses deutsche Schicksalsthema als Soap – ist das angemessen angesichts der Verbrechen, die die Deutschen im Osten begangen haben?

Man muss den Neuansatz des Films würdigen: Ganz eindeutig wollen die Filmemacher erstens vermitteln, dass Flucht und Vertreibung auch Opfer des Nationalsozialismus betreffen: Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Zweitens: Die Nationalsozialisten sind für die Katastrophe von 1945 verantwortlich, indem sie Ostpreußen zur Festung machten und einen Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung führten. Drittens: Flucht und Vertreibung gehören in den Kontext europäischer Vertreibungen, die lange vor dem Zweiten Weltkrieg durch ethnische Säuberungen, die Judenverfolgung und die Vertreibung von Polen begonnen hat. Schließlich vermeidet der Film in vorbildlicher Weise, sein Thema relativierend zu missbrauchen, etwa die Leiden der Deutschen gegen die der Juden auszuspielen. Wir als Historiker müssen lernen, Leidens-, Verfolgungs- und Unterdrückungsgeschichten in ihrer Gleichzeitigkeit wahrzunehmen. Wir müssen eine integrale Geschichte des Leidens anstreben.

Es bleibt der Vorwurf der Geschichtsklitterung, den unter anderem der Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann erhebt. So sei die Beschreibung des ostpreußischen Adels als überwiegend nazifreie Schicht stark geschönt.

Ich weiß nicht, welchen Film der Kollege gesehen hat: Es brechen doch massive Konflikte in der Filmfamilie auf. Der eine ist Nazi, der andere ist Anti-Nazi. Schwendemann hat aber auch eingewandt, dass man nicht die ganze Geschichte der Kumpanei des Adels in der Endphase der Weimarer Republik nachzeichnet. Darum geht es aber gar nicht. Der Film zeigt eine Frau, die den Verpflichtungs- und nicht den Anspruchsadel verkörpert. Diese Rolle ist stark an der Figur der Gräfin Dönhoff orientiert.

Der Film mag ein Stück nachgeholte Geschichte für jene sein, die sich bislang nicht mit Flucht und Vertreibung beschäftigt haben. Aber ist er heute noch ein Tabubruch?

Nein, man hat in den Familien und in der Nachbarschaft eigentlich immer über diese Ereignisse erzählt. Es gab auch früh Filme wie jenen über den Untergang der Gustloff. Schon in den 50er Jahren ist eine Reihe von Dokumentationen erschienen. Das Tabu endgültig gebrochen hat Grass mit seinem Roman „Im Krebsgang“. Aber dieser Film spricht als aufwendiger Zweiteiler erstmals ein Massenpublikum an. Man sollte ihm nicht vorwerfen, dass er nicht die Ermordung der Juden in den Mittelpunkt stellt oder nicht in die zentrale und unbestreitbare Botschaft mündet, dass der Untergang schon 1933 begann. Wir wissen über keine Epoche so viel wie über das Dritte Reich. Und jeder Geschichtslehrer weiß, gegen welche Ermüdungserscheinungen wir heute anzukämpfen haben. Wenn wir das mit diesem Film aufbrechen können, ist viel erreicht.

Es gab ja seit Kriegsende verschiedene Phasen des Umgangs mit der Vertreibung. Erreicht der Film die Reflexionsebene, auf der die Mehrheit der Bürger heute steht?

Ich hoffe es. Und ich hoffe auf einen anderen Effekt des Films: Wir werden Tag für Tag mit ungeheureren Zivilisationsverbrechen konfrontiert: Srebrenica, Kongo, Darfur. Gleichzeitig haben wir den Mord an den europäischen Juden als kollektives Verbrechen der Deutschen verinnerlicht. Der Film könnte bewirken, dass man zu einem universellen Verständnis von Vertreibung als Voraussetzung von individuellen Leiden kommt.

Ist der Preis, Geschichte so darzustellen, zu hoch: Man erreicht über 13 Millionen Zuschauer, aber die haben nun ein in Teilen schräges Geschichtsbild im Kopf?

Wenn wir den Film jetzt klein hacken, verspielen wir eine Chance. Im Umgang mit Flucht und Vertreibung – in Deutschland, aber auch im deutsch-polnischen Verhältnis – gibt es noch immer tief sitzende Verletzungen, die rausmüssen. Der Film kann uns auch zeigen, dass der Riss zwischen Tätern und Opfern mitten durch das Individuum geht, wie Vaclav Havel sagt: Wir können beides zugleich sein. Wenn der Film dazu beiträgt, diese Ambivalenzen zu zeigen, ist es gut.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Peter Steinbach (58) ist Zeithistoriker und leitet an der Uni Karlsruhe die Forschungsstelle Widerstand. Er ist wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.

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