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Gesundheit: Eine deutsche Stimme in der Welt

Wir brauchen die Wucht einer nationalen Akademie der Wissenschaften

Von Wolfgang Frühwald Seit 15 Jahren wenigstens dauert die Diskussion darüber an, ob sich die Wissenschaft an der Beratung von Lebensfragen der modernen Gesellschaft nicht offensiver als bisher beteiligen müsse. Es wird diskutiert, ob sie, statt mit einer Vielzahl von Meinungen aufzutreten, nicht doch in bestimmten Situationen mit einer von anerkannten Experten getragenen Mehrheitsmeinung an die Öffentlichkeit gehen müsse. In der Debatte geht es auch darum, ob die Vertretung der deutschen Wissenschaft in den Gremien europäischer und internationaler Wissenschaftsorganisationen so reduziert und zersplittert wahrgenommen werden dürfe, wie dies auch im Zeichen der Globalisierung noch immer geschieht.

Die Diskussion konzentrierte sich zuletzt auf die Frage nach der Gründung einer sogenannten „Deutschen Akademie der Wissenschaften“. Die Forderung einer solchen Gründung stand 1994 sogar in der Regierungserklärung, die Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag vorgetragen hat, sie stand im Jahr 2000 im Mittelpunkt eines groß angelegten Symposions, welches die Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften und die Bayerische Akademie der Wissenschaften veranstalteten, sie war schließlich Gegenstand einer Empfehlung des Wissenschaftsrates vom Januar 2004.

Seither ist ein kleines Wunder geschehen. Die Union der Akademien, die Leopoldina, acatech und die großen Wissenschaftsorganisationen einigten sich nämlich auf das gemeinsame Gründungspapier einer DAW genannten Vereinigung, die alle genannten Defizite beheben soll. Darüber hinaus soll sie auch die Beobachtung der Wissenschaftsentwicklung – einschließlich der ethischen Fragen – organisieren sowie den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft intensivieren. Ein kleines Wunder nenne ich diese Einigung deshalb, weil sie das Misstrauen überwunden hat, das Verhandlungen der Wissenschaftsorganisationen und der Akademien bei übergreifenden Fragen häufig belastet hat. Denn in dem gemeinsamen Vorschlag der genannten Institutionen ist eine der föderalen Struktur unseres Wissenschaftssystems angemessene Form der Zusammenarbeit enthalten. Und vor allem wurde die Kluft, die zwischen den Landesakademien und den mächtigen Forschungs- und Forschungsförderorganisationen besteht, in einer großen und bewundernswert selbstlosen Anstrengung überwunden. Das Kürzel DAW ist mit „Deutsche Akademien der Wissenschaften“ aufzulösen. Der Plural deutet darauf hin, dass die an dieser DAW durch Vorschlags- und Delegationsrecht beteiligten Institutionen ihre internationalen Kontakte und Erfahrungen bündeln und damit versuchen werden, im Konzert der kontinentalen und der internationalen Gremien eine deutlich vernehmbare Melodie zu spielen. Die DAW ist weit davon entfernt, „ein Zentralkomitee für die Entscheidung zwischen richtig und falsch“ zu sein, wie Ulrich Herbert jetzt in dieser Zeitung kritisiert hat (Tagesspiegel vom 10. August). Sie will vielmehr ein Gremium sein, in deren kompetenten Arbeitsgruppen Stellungnahmen zu Fragen von nationalem und internationalem Interesse vorbereitet und publiziert werden, noch ehe diese Fragen auf der drängenden Agenda der Tagespolitik erscheinen. Politikberatung geschieht hier nicht im Stile des 18. Jahrhunderts, also im Hofratsstil, sie geschieht auch nicht – wie in manchen Ländern – durch die Person eines chief scientist, sondern durch Stellungnahmen und Empfehlungen, die in der Regel öffentlich sind und so auch dann in der Diskussion bleiben, wenn die Politik ihr nicht folgen will oder folgen kann. Es ist eine alte Erfahrung der Wissenschaftspolitik, dass ein heute verworfener Gedanke morgen schon als das Ei des Kolumbus gelten kann. Und gerade die Entwicklung der Migrationspolitik in Deutschland, die sich vielleicht zu langsam bewegt, aber die sich immerhin bewegt, ist ein gutes Beispiel für diese Erfahrung.

Ulrich Herberts Aussagen sprechen meines Erachtens an der Sache, um die es geht, vorbei. Er fixiert einen Diskussionsstand, der im Frühjahr 2004 bereits überholt war. Heute, angesichts der rasanten Entwicklung von Wissensgesellschaften, also von Gesellschaften, die auch wirtschaftlich von Wissenschaft abhängig sind, scheint mir nicht so sehr die Notwendigkeit einer freien, unabhängigen und nachvollziehbaren Politikberatung umstritten zu sein, als vielmehr die Vertretung Deutschlands in europäischen und internationalen Gremien, in denen zunehmend Entscheidungen fallen, bei denen eine mit Autorität versehene deutsche Stimme fehlt.

Wer auch nur einmal an wissenschaftspolitischen internationalen Konferenzen teilgenommen hat und sich als Vertreter einer einzelnen deutschen Wissenschaftsorganisation der ganzen Wucht von Empfehlungen etwa des amerikanischen National Research Council ausgesetzt sah, wird die Frage der Autorität nicht mehr Geringschätzen. In der Welt der Wissenschaft, ihres Marktes und ihrer Politik zählt nicht nur das Argument, sondern auch die Hörbarkeit der Stimme, die dieses Argument benutzt. Wir – die Deutschen – werden auf internationalem Parkett erst dann die den Erfolgen unserer Wissenschaft gemäße Rolle spielen können, wenn wir ein Organ haben, das mit wissenschaftlicher und politischer Autorität zu sprechen befugt ist. Die DAW könnte diese immer fühlbarer werdende Lücke schließen, sie müsste frei und unabhängig ihre Mitglieder und ihre Themen wählen können, aber um der Hörbarkeit und Sichtbarkeit willen politisch hochrangig angebunden sein. Wenn der Bundespräsident die Schirmherrschaft übernähme, wäre dies ein deutliches Signal.

Die Entscheidung über die Gründung einer DAW ist überfällig. Jetzt die Diskussionen aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts neu zu beginnen, hielte ich für einen fatalen und vermutlich auf lange Zeit nicht mehr zu korrigierenden Fehler.

Wolfgang Frühwald ist Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung. Zuvor war der Germanist Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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