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Gesundheitsreform: Operation Gesundheitsfonds

Mitarbeiter von Krankenkassen spüren die Folgen der Reformen jetzt schon – reden wollen sie darüber nur anonym.

Ab 1. Januar 2009 sollen alle gesetzlich Krankenversicherten den gleichen Beitrag zahlen. Und das ist nur eine der Folgen des Gesundheitsfonds, den der Bundestag im Februar 2007 mit dem „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung“ beschlossen hat. Auch der Bundesrat hat zugestimmt.

Seither streiten Politiker in Koalition und Opposition darum, was sich mit der Umsetzung für die Bürger ändern wird. Die FDP fordert jetzt die Einführung auf Probe, CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla verteidigt den Fonds, und die SPD wehrt sich gegen den Vorwurf, der Beitrag werde dadurch deutlich steigen. Fest steht: Das Geld wird umverteilt, was mit enormem bürokratischen Aufwand verbunden ist.

Die Journalistin und Autorin Sibylle Herbert hat eine Krankenkasse besucht, die hier nicht genannt werden möchte. Sie hat erlebt und aufgeschrieben, wie sich die Mitarbeiter dort auf den Gesundheitsfonds vorbereiten – und was sie davon halten.

Es ist eine Großbaustelle, die man nicht besichtigen kann: Die Rede ist vom Gesundheitsfonds. Bis jetzt gibt es ihn nur in Form von Berechnungen, Tabellen, Vorschriften. Während seine Architekten noch über Umsetzung und Folgen streiten, versuchen Angestellte in den gesetzlichen Krankenversicherungen schon, das Bauwerk nach den vorgelegten Plänen bis zum 1. Januar 2009 fertig zu stellen.

Thomas Müller ist einer der Bauleiter, bei einer von 210 Krankenkassen in Deutschland. Eigentlich ist er Sozialversicherungsfachmann. Seit Monaten sitzt er in Lenkungsausschüssen, Projekten und Statusmeetings, um den Start des Fonds vorzubereiten. In Wirklichkeit heißt er nicht Müller, auch seine Kollegen heißen nicht Meier, Schulze oder Schumann. Auch der Name der Kasse soll hier nicht fallen. Nennen wir sie einfach „Incognito-Krankenkasse“.

Man fürchtet, von den Versicherten abgestraft zu werden, wenn man sich offen über den Fonds äußert und die Versicherten erfahren, was auf sie zukommt: „Was diese Reform den Versicherten zumutet, sprengt jeden bisher dagewesenen Rahmen,“ sagt Thomas Müller.

Tatsächlich wird das Gesundheitssystem auf eine völlig neue Grundlage gestellt: „Die Versicherten müssen sich auf Chaos, Ärger und viel unangenehme Post einstellen“ – das ist für Müller klar. Vor sich hat er ein riesiges Tableau, wer zu welchem Zeitpunkt über welche Änderungen informiert werden muss. Die Tabelle beeindruckt jeden Laien, weil sie so kompliziert aussieht. Da ist zum einen die Gestaltung des Beitragssatzes: Bis jetzt zahlen Versicherte zwischen 12,4 und 16,5 Prozent. Bei der Incognito sind es 13,7 Prozent. Damit ist ab Januar Schluss. Alle gesetzlich Versicherten zahlen dann den gleichen Beitragssatz, der bis Anfang November von der Bundesregierung festgelegt wird. Experten vermuten, dass er zwischen 15 und 15,5 Prozent liegen wird. Für die Versicherten der Incognito wird es ein böses Erwachen geben. „Alle Kassen, die einen Beitragssatz unter dem künftigen haben, werden einen höheren Beitrag erheben müssen“, erwartet Eva Schulte, Pressesprecherin bei der Incognito. Steigt der Satz wie erwartet, müssten Versicherte und Arbeitgeber bis zu 40 Euro mehr pro Monat zahlen. Das zusätzliche Geld zieht die Krankenkasse ein, leitet es aber sofort an den Fonds weiter. Das heißt: Alle Finanzströme müssen geändert werden.

„Bis jetzt gibt es verschiedene Zahlungsfälligkeiten, weil unsere Versicherten zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihr Gehalt bekommen. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein,“ sagt Müller. Und auf der Liste des Sozialversicherungsexperten stehen noch weitere unangenehme Punkte: Sondertarife für Studienabsolventen werden abgeschafft – genau wie für Ehepaare mit privatversichertem Ehemann und für Selbstständige. Studenten müssen den erhöhten Fondsbeitrag schon ab Oktober zahlen. Müller hat den Ärger bereits auf seiner Tabelle einkalkuliert: Wenn die Briefe herausgehen, wird er das Call-Center verstärken.

Eine Etage tiefer sitzt Marion Maier, zuständig für Versicherungs- und Mitgliedschaftsrecht. Sie muss Briefe für 4,8 Millionen Incognito-Versicherte aufsetzen. Bundesweit müssen 55 Millionen Versicherte und 500 000 Arbeitgeber angeschrieben werden. „Die wenigsten wissen, was auf sie zukommt“, sagt Maier.

Kaum haben die Kassen das Geld an den Fonds weitergeleitet, wird es zurücküberwiesen – nach einem Verteilungsschlüssel, der es in sich hat. „Künftig orientiert sich die Finanzausstattung einer Kasse am Gesundheitszustand der Versicherten – dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, kurz Morbi-RSA“, sagt Hans Schumann aus der Incognito-Finanzabteilung. Das bedeutet: Kassen, die viele Kranke zu versorgen haben, bekommen mehr Geld aus dem Fonds als die, die wenige Kranke haben.

Nur wann ist jemand krank? So krank, dass ein Ausgleich gezahlt werden muss? Darüber kann man streiten. Wissenschaftler, die dazu eine Liste erstellen sollten, haben ihre Arbeit vor ein paar Monaten niedergelegt. Sie wollten, dass die Zahl der Krankheiten auf die wirklich teuren begrenzt wird. Das stieß auf massive Widerstände. Deshalb hat das Bundesversicherungsamt allein über die rund 80 Krankheiten und die zu verteilenden 25 Milliarden entschieden. Es hat die Liste der Kranken, für die es einen Ausgleich gibt, deutlich erweitert: Demenz, Depression, Diabetes, alle Krebskrankheiten, Dekubitus, Bluthochdruck, Herzinsuffizienz – auf 88 Seiten wird aufgeführt, wofür eine Kasse mehr Geld bekommt als für den Durchschnittsversicherten. Demnach besteht die Bevölkerung zu etwa 50 Prozent aus Kranken.

Die Fonds-Experten bei Incognito machen sich ihre Gedanken, was das in der Praxis bedeutet. „Stellen Sie sich einen 55-Jährigen vor, der 15 Kilo zu viel auf den Rippen hat und bei dem ein leichter Diabetes Typ II festgestellt wird“, sagt Müller. Abnehmen, mit Rauchen aufhören, weniger Alkohol, mehr bewegen – so könnte man die Krankheit in den Griff bekommen. Aber Diabetes II steht nun auf der Liste für den Morbi-RSA – das heißt für die Kasse: Der Kranke ist Geld wert, wenn er weiter Diabetes hat. „Hinter jeder Diagnose muss nun auch eine Therapie stecken.“ Pressesprecherin Eva Schulte findet das paradox.

Die Beschäftigten in der Incognito- Hauptverwaltung haben Sachverstand, auch wenn sie in der Öffentlichkeit selten zu Wort kommen: In Zukunft – das ist Schumann, Müller, Schulte und Maier klar – gibt es keinen Wettbewerb mehr um gesunde, gut verdienende Versicherte, sondern um chronisch Kranke, die wenig kosten. Logisch, dass sie darüber nicht glücklich sind. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen und großen Versorgerkassen hingegen freuen sich über die Liste und finden sie gerecht. Sie haben viele arme Versicherte und teure Patienten. Ihnen war die „Rosinenpickerei“ der BKK’s und Ersatzkassen immer ein Dorn im Auge, weil sie mehr gesunde und solvente Mitglieder hatten und so günstigere Beiträge anbieten konnten. Das soll durch den Fonds ausgeglichen werden.

Bauleiter Müller sieht das anders. Für ihn werden die Kassen bestraft, die wirtschaftlich arbeiten. Aber die politische Bewertung ist seine Aufgabe nicht, ihn interessiert vor allem, wie sich dieser Risikostrukturausgleich auf die Finanzen der Incognito auswirkt. Schließlich gilt es, einen Haushaltsplan fürs kommende Jahr aufzustellen. Er zuckt mit den Achseln: „Wie hoch unsere Einnahmen sein werden, darüber können wir nur spekulieren.“ Diese Frage treibt ihn nicht alleine um. Kein Experte weiß darauf zur Zeit eine Antwort. Der Gesundheitsfonds ist auch ein großes Abenteuer.

Nur eines ist klar: Prävention, geringe Verwaltungskosten, mehr Leistungen, guter Service – all das wird im neuen System nicht belohnt. Versicherte mögen glauben, Zusatzbeitrag bedeute auch zusätzliche Leistungen. Doch die Zusatzbeiträge dienen nur zur Finanzierung des normalen Geschäfts. Bei der Incognito, aber auch bei vielen BKKs geht die Sorge um, dass sie ihren Mitgliedern auch noch mitteilen müssen, dass ein Zusatzbeitrag erhoben wird. Der Grund: Sie bekommen zu wenig Geld aus dem Fond.

Thomas Müller müsste wieder das Call-Center verstärken, weil sich viele beschweren würden. Denn Mutterschaftsgeld ist nicht zusatzbeitragspflichtig. Erziehungsgeld schon, bei Verletztengeld weiß man es noch nicht.

Hinter jedem dieser Begriffe stehen Tausende von individuellen Fällen. Langsam begreift man, warum Müllers Tableau so umfangreich ist. „Man muss schon Humor haben, um in diesen Zeiten den Job auszuhalten“, darin sind sich die vier in der Hauptverwaltung der Krankenkasse einig. Noch sind es Szenarien, Tabellen, Planungen. Aber schon bald wird das Haus „Gesundheitsfonds“ für bezugsfertig erklärt, dann werden die Versicherten die Folgen spüren.

„Heute ist es so,“ erklärt Eva Schulte, „dass wir die PET-CT, eine teure Krebsdiagnostik, den Versicherten für weitere Diagnosen zur Verfügung stellen. Unter Fondsbedingungen wird es sich jede Kasse fünfmal überlegen, ob sie sich so etwas noch leisten kann oder ob deshalb ein Zusatzbeitrag fällig wird. Der Fonds wird wie ein Betondeckel auf den Gesundheitsausgaben liegen.“ Das heißt für gesetzlich Versicherte: Sie müssen bald für schlechtere Leistungen mehr zahlen.

Sibylle Herbert

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