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Gesundheit: Hilfe, die Ostler kommen

Westdeutschland hat schon immer vom Zustrom aus dem Osten profitiert. Trotzdem waren DDR-Bürger anfangs nicht willkommen

Blutet Ostdeutschland intellektuell aus? Jörg Schönbohms Äußerung von der Verproletarisierung hat die Debatte darüber, wie Eliten in Deutschland verteilt sind, neu belebt. Dabei weist man auch auf Spätfolgen der so genannten „Republikflucht“ aus der DDR hin: Der Osten leide noch immer an den vielen, die nach dem Kriegsende in den Westen geflohen seien. Welchen Einfluss hatte die Fluchtbewegung tatsächlich? „Der typische DDR-Flüchtling war jung, gut ausgebildet und stand am Beginn der beruflichen Karriere. Dass die Abwanderung dieser Menschen die DDR auf allen Ebenen sowohl kurz- als auch langfristig vor große Probleme stellen musste, war spätestens ab Mitte der fünfziger Jahre klar“, sagt der Historiker Helge Heidemeyer, der die Ausstellung zur deutsch-deutschen Flucht in Berlin-Marienfelde leitet.

Trotzdem sah man in der frühen Bundesrepublik in der Zuwanderung keinen Vorteil. Im Gegenteil: Ab Ende 1949 stand die Eindämmung der Fluchtbewegung zunächst im Mittelpunkt einer hitzigen Diskussion zwischen konservativ-liberaler Regierung und SPD-Opposition. Die SED-Regierung reagierte dagegen bis 1952 eher desinteressiert. Dass eine einheitliche Regelung für das Bundesgebiet geschaffen werden musste, war unumstritten, nicht aber deren Ausgestaltung.

Der SPD lag daran, die Flüchtlinge vollständig zu erfassen, um sie in die Versorgungssysteme einzubeziehen. Die Regierung argumentierte dagegen, man könne nur die aufnehmen, die in der DDR tatsächlich einer persönlichen Gefahr ausgesetzt seien – allen anderen seien besondere Leistungen zu versagen. Sonst locke man Menschen an, die nur den „einfachsten Weg“ gehen wollten. Einig war man sich darüber, dass eine zwangsweise Abschiebung in die DDR keinesfalls in Frage komme.

Am 22. August 1950 setzte sich die Bundesregierung durch: Das Notaufnahmegesetz legte fest, dass nur diejenigen eine Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik erhielten, die hier Verwandtschaft besaßen, die politisch verfolgt waren oder die eine individuelle Zwangslage belegen konnten. Wer diese Motive nachweisen konnte, der hatte gute Chancen besondere Unterstützungsleistungen zu erhalten.

Tatsächlich bedeutete die Überprüfung für weniger Gebildete eine nicht geringe Hürde. Im Notaufnahmeverfahren stellten Beamte wiederholt Fragen zu den Lebensbedingungen der Flüchtlinge in der DDR und zum Umfeld der Flucht. Wer sich hier in Widersprüche verwickelte und als nicht glaubwürdig eingestuft wurde, wurde abgelehnt. Angesichts der Lebensbedingungen während des Verfahrens – Unterbringung in Massenunterkünften, teilweise Trennung der Familienmitglieder, tagelanges Schlangestehen – waren das Anfang der 50er Jahre nicht wenige.

Grundsätzlich machte vor allem den allein geflüchteten Jugendlichen die Einsamkeit zu schaffen. Ein 18-Jähriger reimte Ende 1955: „Ich bin wohl hier so ganz allein/meine Lieben sind in Erfurt daheim./Da sitz ich nun den Kopf voll Sorgen/und frag mich was wird erst morgen,/aber auch mal für mich kommt die Stunde/wo ich wieder sitze in eurer Runde.“ Der Verfasser gehörte zu jenen, die im Laufe des Verfahrens „verschwanden“ und viele persönliche Papiere zurückließen – darunter Hochzeitsfotos und Liebesbriefe, aber auch Ausweise. Viele dieser Personen werden in die DDR zurückgegangen sein.

Andere wurden am Ende des Verfahrens abgelehnt. Sie lebten ohne Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik oder in West-Berlin, ihr Rechtsstatus war unklar und hing vom jeweiligen Bundesland ab. So stempelte Bayern – einer Anweisung des Bundesinnenministers von 1951 folgend – die Worte „ohne Aufenthaltsgenehmigung“ in die Personalausweise der „Illegalen“, und dies bis 1954. Nordrhein-Westfalen hat dieser Anweisung nie Folge geleistet. Neben politischen Präferenzen spielte in solchen Fragen der jeweilige Bedarf an Arbeitskräften eine Rolle.

Einen Sonderfall stellte West-Berlin dar, vor allem wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Lage. Wohnraum und Arbeit waren in der Teilstadt knapp. Ab Juni 1952 war West-Berlin außerdem das einzige verbleibende Tor in den Westen. Ältere Notunterkünfte, Lager- und Fabrikhallen sowie alte Bunker wurden auch nach der Eröffnung des neuen Notaufnahmelagers in Marienfelde weitergenutzt.

Alle Lager waren meist überfüllt, weil „Abgelehnte“ nicht im Zuge des Verfahrens in das Bundesgebiet ausgeflogen werden konnten. Da aber nur die wenigsten „Illegalen“ die Mittel für den Flug selbst aufbringen konnten, stauten sie sich in West-Berlin. Sie erhielten weder Zuzugs- noch Arbeitsgenehmigung, konnten aber gegen ihren Willen zu „gemeinnützigen Arbeiten“ verpflichtet werden. Senatsstellen erblickten darin ein geeignetes Mittel gegen ihre Verwahrlosung. Viele „Abgelehnte“ verloren den Mut und kehrten – trotz der Angst vor Repressalien – in den Osten Berlins zurück.

Eine politische Lösung für den Umgang mit den „Illegalen“ hat es erst nach 1961 gegeben. Viele waren zu diesem Zeitpunkt bereits voll integriert und profitierten vom „Wirtschaftswunder“ ebenso wie sie es selber anfeuerten. Andere scheiterten unbemerkt.

Wie stark wirkt die Fluchtbewegung noch heute im Osten nach? Der aktuelle Brain-drain von Ost nach West beschäftigt die Gegenwart. „Eine wissenschaftliche Aufarbeitung seiner Anfänge steht jedoch noch aus“, sagt Helge Heidemeyer.

Verschiedene Aspekte der deutsch-deutschen Fluchtgeschichte werden in der Dauerausstellung im ehemaligen Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde gezeigt, Marienfelder Allee 66-80, dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr.

Elke Kimmel

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