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Gesundheit: Hyperaktive Menschen können leicht depressiv werden

Sie heißen im Volksmund Zappelphilipp oder Wackelpeter. Sie treiben Geschwister, Eltern und Lehrer zur Verzweiflung, weil sie immer dazwischenreden, kaum stillsitzen und sich nicht konzentrieren können.

Sie heißen im Volksmund Zappelphilipp oder Wackelpeter. Sie treiben Geschwister, Eltern und Lehrer zur Verzweiflung, weil sie immer dazwischenreden, kaum stillsitzen und sich nicht konzentrieren können. "Vier Prozent aller Kinder haben ein Aufmerksamkeitsdefizit und sind dabei gleichzeitig hyperaktiv", sagt der Aschaffenburger Kinder- und Jugendpsychiater Götz-Erik Trott. Er war einer der Referenten auf dem Symposium "Hyperaktivität", das kürzlich in Celle mit mehr als 1000 Teilnehmern stattfand.

Doch was passiert, wenn aus Zappelphilipp ein Halbwüchsiger wird? Wenn Kinder mit einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHD) die Pubertät durchlaufen und langsam erwachsen werden? "Die wissenschaftliche Literatur befasst sich mit Kindern bis zum 13. Lebensjahr, danach gibt es kaum Studien", sagt Volker Heiduk, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deggendorf. Für ihn ist das ein Versäumnis - schließlich vollziehe sich in der Jugendphase ein entscheidender Wandel: Die äußere Unruhe nimmt ab, Verhaltensauffälligkeiten werden mit der Zeit als besonderer Lebensstil akzeptiert, es werde für Außenstehende immer schwieriger zu beurteilen, ob jemand faul oder unkonzentriert sei.

Laut Heiduk sind unbehandelte Jugendliche mit ADHD vermehrt Gefahren ausgesetzt: So bestehe eine erhöhte Unfallgefährdung durch riskantes Verhalten im Verkehr. Das Risiko, süchtig oder straffällig zu werden, sei ebenfalls wesentlich höher als im Durchschnitt."Die Jugendphase entscheidet darüber, ob die Störung des Sozialverhaltens bestehen bleibt", so Heiduk. Dabei hänge viel vom Engagement der Eltern ab, die häufig besser Bescheid wüssten als Ärzte. "Es ist eine große Anteilnahme nötig, weil viele Jugendliche das Gefühl haben, dass sie schon alle enttäuscht hätten und deswegen eh alles wurscht sei."

Laut Heiduk werde bei Mädchen immer noch viel zu selten ADHD diagnostiziert, da sie in der Regel weniger durch motorische Unruhe und Störung in der Gruppe auffallen. "Sie leiden dafür umso stärker." Viele werden depressiv.

Heiduks kleiner Trost: Bei einem Drittel aller betroffenen Jugendlichen schwinden beim Übergang zum Erwachsenenalter die ADHD-Symptome. Sie hätten gelernt, mit ihrer besonderen Veranlagung besser zurechtzukommen. "Diese einstigen Problemkinder werden oft von Arbeitgebern gelobt, weil sie kreativ, flexibel, spontan, zu allem bereit seien und keinerlei Kommunikationsprobleme hätten." Und was passiert mit denjenigen, bei denen sich die Hyperaktivität nicht auswächst? Kinder- und Jugendpsychiater Trott sieht es so: "Bei mindestens 30 Prozent besteht die Krankheit lebenslang." Sie fühlen sich mit ihrer Veranlagung häufig allein gelassen. Ihr Selbstwertgefühl leidet stark, weil sie sich selbst und den Mitmenschen ihre starken Stimmungsschwankungen nicht erklären können.

Professionelle Hilfe für erwachsene ADHD-Patienten gibt es kaum. "Ich beschäftige mich als einer der wenigen Erwachsenenpsychiater mit dem Thema. Es gibt so gut wie nichts an Therapien. Meine ratlosen Kollegen schicken mir Patienten mit den Worten: Es besteht wohl eine Depressivität, schauen Sie mal" berichtet Johanna Krause, Fachärztin für Psychiatrie in München.

Für sie ist eine genaue Diagnose nur nach einer gezielten Befragung zu erreichen. Die bei Kindern bekannten ADHD-Symptome treten bei Erwachsenen in abgewandelter Form auf: zum Beispiel in der Unfähigkeit, die eigene Leistungskraft einzuschätzen; in dem Drang, alles und jedes sofort zu kommentieren und sich in den Mittelpunkt zu stellen; in starken Stimmungsschwankungen; in dem Bestreben, alles gleichzeitig zu machen und Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden zu können.

Über die Ursachen von ADHD gibt es unterschiedliche Theorien. Über ihre Bekämpfung waren sich die Experten in Celle einig: In schweren Fällen reichten Gespräche und Verhaltenstherapien nicht aus. Für eine wirkliche Besserung müssten Medikamente wie Ritalin eingesetzt werden. Der Wirkstoff heißt Methylphenidat. "Dagegen gibt es aber Vorbehalte, weil die Angst vor Abhängigkeit besteht. Fachleute halten dagegen: Es gibt kaum ein Medikament, das besser überprüft sei als Ritalin, und es ist noch nie eine Abhängigkeit festgestellt worden", unterstreicht Trott. In über 130 Fällen zeigte sich, dass bei drei Vierteln der ADHD-Jugendlichen die Unruhe und die Nervosität deutlich reduziert werden konnte. Die Nebenwirkungen, geringerer Appetit und Störungen beim Einschlafen, bezeichnete Trott als unbedeutend. Weitere Medikamente sind DC-Amphetamin, Captagon und Tradon.

Trott weist auf das Dilemma erwachsener Patienten hin: "Wer heute eine Aufmerksamkeitsstörung nicht in den Griff bekommt, hat auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr."

Joachim Göres

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