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Gesundheit: Intelligente Prothesen: Mensch und Maschine wachsen zusammen

Es begann vor unzähligen Generationen im Neandertal, als ein cleverer Invalide den begnadeten Einfall hatte, einen gabelförmigen Ast als Gehhilfe für ein verletztes Bein zu nutzen. Heute existieren Schwerkranke wie der britische Physiker Stephen Hawking allein deshalb, weil sie ihr Dasein einem ausgeklügelten elektronischen Lebenserhaltungssystem verdanken.

Es begann vor unzähligen Generationen im Neandertal, als ein cleverer Invalide den begnadeten Einfall hatte, einen gabelförmigen Ast als Gehhilfe für ein verletztes Bein zu nutzen. Heute existieren Schwerkranke wie der britische Physiker Stephen Hawking allein deshalb, weil sie ihr Dasein einem ausgeklügelten elektronischen Lebenserhaltungssystem verdanken. Im Siliziumzeitalter wächst der Mensch unaufhaltsam mit maschinellen Prothesen zusammen, die nicht nur körperliche Schwächen, sondern zunehmend auch Defizite der Sinne und gar des Geistes überbrücken.

Schon vor 40 Jahren wurde dem schwedischen Ingenieur Arne Larsson am Karolinska Institut in Stockholm der erste völlig mobile Herzschrittmacher eingepflanzt. Seit diesem historischen Augenblick wird in den Industrienationen nach Möglichkeiten gesucht, körperliche und seelische Beeinträchtigungen durch implantierbare elektronische Geräte auszugleichen. Die Bemühungen haben unter anderm "Defibrillatoren" hervorgebracht, die ein heranziehendes Kammerflimmern wahrnehmen und mit dosierten Elektroschocks bekämpfen, akustische Wandler, die tauben Kindern die Hörfähigkeit wiedergeben und im Körper tragbare Pumpen, die die Zirkulation bis zum Termin der Herztransplantation aufrechterhalten.

Ein Vagus-Stimulator von der Größe eines Walkmans überwacht das Gehirn von Epileptikern. Sobald sich ein epileptischer Anfall anbahnt, wird das Gehirn über Elektroden im Kopf so stimuliert, dass die für diese Krankheit typischen Schwingungen im Nervennetzwerk abklingen.

Gerade beim Ersatz ausgefallener Sinnesleistungen werden die Maschinen in naher Zukunft auf breiter Front antreten. Beim Gehör ist die maschinelle Ergänzung besonders weit fortgeschritten. Zu Tausenden werden inzwischen Cochlea-Implantate eingepflanzt. Bei ihnen übernimmt ein Minicomputer die Funktion des ausgefallenen Hörorgans und übermittelt akustische Eindrücke über implantierte Elektroden direkt an die Hörschnecke.

Elektrisches Licht im Dunkeln

Es besteht aber auch ein starkes Bedürfnis nach einem Ersatz für verlorene Sehleistungen, weil allein in Deutschland jedes Jahr 30 000 Menschen wegen einer Schädigung der Netzhaut (Retina) im Dunkeln tappen. An der Universität Bonn entwickelt ein Team um Rolf Eckmiller ein Retina-Implantat, das Lichtmuster in elektrische Pulse übersetzt, mit denen man eines Tages den Sehnerv oder seine Anlaufstelle im Großhirn (Kortex) stimulieren will.

"Die Machbarkeit einer mikroelektronischen Sehprothese ist erfolgreich demonstriert worden", sagt Eckmiller. Man stehe nun vor der "ersten Erprobung am Menschen nach streng medizinischen Kriterien". Anfang des Jahres indes hat der Neurologe William Dobelle vom Presbyterian Medical Center in den USA der deutschen Arbeitsgruppe mit einem spektakulären Schritt buchstäblich die Schau gestohlen: Mit Hilfe einer Kamera und eines Computers, der mit einem Chip im Gehirn verbunden ist, hat Dobelle bei einem Patienten einen Teil des bei einem Unfall verlorenen Sehrvermögens repariert.

Der Neurologe verwendet eine in eine Brille eingebaute Kamera. Sie liefert Bilder an einen tragbaren, vier Kilogramm schweren Computer, der die Größe eines Buches hat. Der Computer digitalisiert die Videoaufnahmen und sendet sie an die 68 Platinelektroden, die seit längerer Zeit auf der Oberfläche der Großhirnrinde des Patienten sitzen. Jede dieser Elektroden produziert ein bis vier "Phosphene", die wie Lichtblitze auf einer dunklen Oberfläche erscheinen. Mit Hilfe dieser Impulse kann Jerry zwischen hell und dunkel unterscheiden.

Um seine neuen Fähigkeiten zu demonstrieren, lief Jerry vor Experten durch einen Raum. Er ging zu einer Wand, an der ein Hut aufgehängt war, griff den Hut und setzte ihn einer Puppe auf, die in einer anderen Ecke des Zimmers stand. Dabei konnte er anderen Menschen, die auf ihn zugingen, ausweichen. Seine Sicht entspräche der eines stark kurzsichtigen Menschen, sagen die Ärzte. Eckmiller allerdings wertet die Leistung der amerikanischen Konkurrenten ab. "Die sind mit einer Technik aufgetaucht, für die die USA vor Scham im Boden versinken müssten."

Bionischer Kunstarm

Der 47jährige Campbell Aird ist der erste Mensch, den Bio-Ingenieure und Ärzte am Princess Margaret Rose Hospital in Edinburgh mit einem voll funktionsfähigen bionischen (der Natur nachempfundenen) Arm ausgestattet haben. Wie sein biologisches Vorbild lässt sich das künstliche Pendant von Nervensignalen steuern. Dazu nehmen Mikrosensoren oberhalb der Amputationsstelle an noch intakten Muskeln die vom Gehirn gesendeten Befehle auf.

Von dort werden sie an Mikrochips weitergeleitet. Deren Aufgabe ist es, relevante Informationen herauszufiltern und die komplizierte Mechanik des Arms in Gang zu setzen. Zugleich geben Potentiometer - empfindliche Spannungsmesser - genaue Rückmeldungen über die ausgeführten Bewegungen.

James Bond würde blass

"Was man in James-Bond-Filmen sieht, ist im Vergleich dazu ein Klacks", verkündet Aird stolz. Ohne den Zugriff auf ein funktionsfähiges Tastgefühl sind die internationalen Forschergruppen, die an einer Neuroprothese für den Arm arbeiten, allerdings noch vor ein großes Problem gestellt: Sie können zwar die Muskeln schon ziemlich genau ansteuern, aber ohne die taktile Empfindung greift die Hand viel zu fest nach einem Gegenstand. Und wenn der dann beispielsweise noch heiß ist, wird das fehlende Fingerspitzengefühl zur Gefahr. Kein Sensor kann bei diesem Sinneseindruck Alarm im Gehirn schlagen, damit die Hand loslässt.

Selbst einige der Wunder, mit denen Jesus die Menschheit in Erstaunen versetzte, haben durch die Fortschritte der Neuroprothetik ihren Nimbus eingebüßt. Das beweist der Fall des Querschnittsgelähmten Marc Merger, der am Propara-Zentrum im südfranzösischen Montpellier wieder gehen lernte. Der Neuroanatom Pierre Rabischong verpflanzte ihm einen Mikrochip unter die Bauchdecke, der die Muskeln des Gehapparats über ein Elektrodenkabel stimuliert.

Am Gürtel hat Merger ein kleines Steuergerät, das seinen jeweils nächsten Schritt durch ein kompliziertes Impulsprogramm auslöst. Das Problem dabei ist die Feinabstimmung der Bewegung: Für einen runden Gang müssten tausende Muskelfasern koordiniert werden. Dafür reicht die Rechenleistung des Mikrochips aber noch nicht aus. Außerdem benötigt Merger eine Gehhilfe. Denn die Steuerzentrale Gehirn ist nicht in der Lage, das Gleichgewicht zu halten. Die fürs Gleichgewicht nötigen sensorischen Informationen sind kaum erforscht.

Dennoch triumphiert Mergers Arzt: "Der Patient legt bis zu 150 Meter am Tag zu Fuß zurück, wenn auch nicht am Stück, weil jeder Schritt extrem anstrengend ist." Ein Team um Heinrich Binder, dem ärztlichen Leiter des Wiener Neurologischen Krankenhauses, ist schon um einen großen Schritt weiter. Erst vor kurzem pflanzten die Neurochirurgen dem querschnittgelähmten Österreicher Ernst Bachmaier eine Elektrode direkt ins Rückenmark ein.

Elektroden lassen Lahme laufen

Das Implantat, das von Frank Rattay an der TU Wien entwickelt wurde, regt nicht einzelne Muskeln an, sondern stimuliert direkt das Gehzentrum im Bereich des zweiten Lendenwirbels. Jetzt übt Bachmaier fünfmal pro Woche auf dem Laufband einfache Schrittmuster. "Es ist ein Supergefühl, wieder mit den eigenen Beinen zu arbeiten", strahlt der 25-Jährige über die Methoden der restaurativen Neurologie.

Ein entscheidender Fortschritt besteht in der Fähigkeit, sich in den Signalverkehr einzelner Nervenzellen einzuklinken. Den ersten Lauschposten dieser Art konstruierte der Münchner Biophysiker Peter Fromherz, Leiter der Abteilung Membran- und Neurophysik am Max-Planck-Institut für Biochemie. Fromherz züchtete Anfang der neunziger Jahre die Nervenzelle eines Blutegels auf einem Computerchip. Zehn Jahre später hat Fromherz es immerhin geschafft, zwei Schneckenneuronen auf einem Chip zu züchten und die beiden Zellen über einen synaptischen Kontakt miteinander zu verbinden und zu belauschen.

Aber manche Wissenschaftler denken bereits jetzt viel weiter. Gezielt wird eine Direktverbindung zwischen Gehirn und einem künstlichen Apparat erprobt. Amerikanische Forscher von der Hahnemann Medical School in Philadelphia und der Duke-Universitätin North Carolina brachten eine Ratte dazu, durch Gedankenkraft einen Roboterarm zu bedienen. Sie implantierten ihr 32 Elektroden ins Gehirn, und das Tier steuerte damit das Gerät (siehe auch nebenstehender Artikel).

Sandro Mussa-Ivaldi und seine Kollegen von der Northwestern Universität in Chicago schufen eine skurrile Chimäre, halb Tier, halb Maschine: Sie schlossen das Gehirn eines Meerneunauges - ein primitives, aalartiges Wirbeltier - an einen kleinen Roboter an, ein handelsübliches Modell, das wie ein runder Keks auf zwei Rädern aussieht und zwei Licht-Sensoren hat. Das Neunaugen-Hirn ermöglichte es dem Stahlknecht, Lichtquellen am Rande einer 50 Zentimeter weiten Arena aufzuspüren und anzusteuern.

Am 24. März 1998 ist die erste Direktverbindung zwischen Menschengehirn und Elektronengehirn geglückt. An jenem Tag implantierte Roy Bakay, Neurochirurg an der Emory-Universität in Atlanta, in das Gehirn des durch eine Nervenschädigung gelähmten Patienten JR eine kleine Glaselektrode, die er gemeinsam mit seinem Kollegen Phillip Kennedy von der Technischen Universität Georgia entwickelt hat. Diese Elektrode sendet JRs Nervensignale direkt zu einem Computer, der mit einem Bildschirm verbunden ist.

"Nett, mit dir gesprochen zu haben!"

JR steuert kraft seiner Gedanken den Cursor über die Mattscheibe. Längst kann er die Maus über fünf verschiedene, in horizontaler Richtung angeordnete Piktogramme bewegen und diese aktivieren. Klickt er auf eines, so spuckt der Sprachcomputer Sätze aus, wie "Ich habe Schmerzen" oder "Bitte schalte das Licht aus". JRs Lieblings-Icon ist: "Bis bald. War nett, mit dir gesprochen zu haben!"

Kennedy und Bakay hoffen, dass dank dieser Elektrode die Isolation von Locked-in-Patienten, also von Menschen, die wegen Schlaganfällen oder Schädigungen des Rückenmarks im kommunikativen Dunkel sitzen, ein Ende hat. Dass bewegungsunfähige Patienten auch via PC kommunizieren können, ohne sich einem operativen Eingriff ins Gehirn zu unterziehen, hat Niels Birbaumer am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Tübingen vorgeführt.

Birbaumer arbeitet ebenfalls mit "Locked-in"-Patienten, die zwar ihre Umgebung wahrnehmen, sich aber wegen der Erkrankung in keiner Weise mitteilen können. Er trainiert die Betroffenen so, dass sie mit Hilfe der Hirnströme kommunizieren können.

Dazu müssen die Kranken ihre Hirnströme per Selbstkontrolle steuern. Ein Cursor wird durch hohe Aktivität der Hirnwellen in ein Tor am oberen Bildschirmrand, durch Entspannung in eines am unteren Rand gelenkt. So lassen sich peu a peu sogar ganze Briefe per "Telepathie" diktieren.

Minichip erleichtert Denken

Die zukunftsgläubigsten Prognosen sagen bereits die baldige Vernetzung der neuronalen und der kybernetischen Welt vorher. Diese Gedanke liegt etwa dem Projekt "Soul Catcher" des britischen Telekommunikationsunternehmens P.L.C. zugrunde, das an der Entwicklung eines implantierbaren Minichips arbeitet. Der Hilfscomputer soll unser Denkorgan eines Tages beim Erinnern, beim Rechnen und beim Einfangen "extrasensorischer" Informationen (Funkwellen) unterstützen.

"Persönlichkeitserweiterung ist der Markt des 21. Jahrhunderts", stößt James Canton, Präsident des "Institute for Global Futures" in San Francisco ins gleiche Horn. "Wer möchte nicht 50 oder 60 Jahre länger leben, mit einem eingepflanzten Computer, der einem die Fähigkeit gibt, in einer Stunde geigen zu lernen?" Doch der skeptische US-Futurologe James Halperin zweifelt solche illustren Vorhersagen technischer Wunder grundsätzlich an. "Das ist ungefähr so, als wolle man vorhersagen, wie das Wetter in Dallas in genau fünf Jahren sein wird."

Rolf Degen

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