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Gesundheit: Klinisch platt

Fürs schnelle Spiel brauchen Fußballer griffige Schuhe - dem Fuß wird dabei jedoch einiges abverlangt. Die Geschichte einer Zwangsehe

Der grüne Teppich ist ausgerollt. Für die bestbezahlten Füße der Welt. Kaum vorstellbar, dass man sich auf diesem samtweichen Rasen mit einer falschen Bewegung so verletzen kann, dass die Fußball-Karriere beendet ist. Und das ohne jegliche Einwirkung des Gegners.

In seinem Arbeitszimmer am Olympiapark in München sitzt der 26-jährige Sportwissenschaftler Thomas Grund in rotem Sweatshirt vor dem Computer und spult mehrere Videos in Superzeitlupe ab. „Das ist der Holländer Ruud van Nistelrooy beim Kopfballtraining.“ Die Bildsequenz ist kurz. Dann zeigt er den Profi Andreas Görlitz bei einer Abwehraktion im Champions-League-Spiel Bayern München gegen Juventus Turin, anschließend den inzwischen für Werder Bremen spielenden Torhüter Tim Wiese, der aus dem Tor herausläuft und kurz darauf kehrtmachen will. Es ist immer wieder dasselbe Muster: ein Tritt in den Boden, ein schneller Richtungswechsel, ein Schrei – Kreuzbandriss.

Bei Borussia Dortmund fielen schon in der Hinrunde der Saison 2005/2006 mit Jan Koller, Sebastian Tyrala, Cedric van der Gun und Lars Ricken vier Spieler auf diese Weise aus. Wie kommt es, dass so viele Fußballer mit ihren Schuhen regelrecht im Boden hängen bleiben und sich dann das Knie verdrehen? Liegt es an den Stollen?

Der Schuh ist das einzige Hilfsmittel, das der Fußballer zum guten Kick braucht. Einen guten Halt soll er ihm geben, anschmiegsam sein wie eine zweite Haut. „Adi, mach uns mal ein paar Schuhe, in denen man den Ball spürt!“, forderte Fritz Walter Anfang der 50er Jahre den Gründer der Firma Adidas, Adolf Dassler, auf. Adi machte einen Fußballschuh, der heutigen Laufschuhen ähnelte: mit nur noch 360 Gramm viel leichter als frühere Stiefel und mit Schraubstollen statt solchen, die in die Sohle genagelt werden mussten. Damit schossen Fritz Walter und Co. das deutsche Team 1954 zum Weltmeistertitel.

Kurz darauf kamen die ersten Treter aus dünnem, reißfestem Känguruhleder auf den Markt, in denen Franz Beckenbauer sein Ballgefühl perfektionierte. Bei der WM 2006 müssen die Spieler aber immer noch 300 Gramm an jedem Fuß mit sich herumschleppen und träumen wie unsereins von einem Schuh, den man kaum spürt. Beim Fußballschuh ist das nicht ohne weiteres zu realisieren. Aber mit neuen Laufschuhmodellen simulieren Firmen wie Nike das Barfußlaufen.

Aus Sicht der heutigen medizinischen Forschung ist ein Schuh, der eigentlich keiner mehr ist, am besten für die Füße. „Schuhe schützen den Fuß vor Umwelteinflüssen wie Kälte, Feuchtigkeit oder Scherben“, sagt Gert-Peter Brüggemann, Leiter des Instituts für Biomechanik und Orthopädie der Deutschen Sporthochschule in Köln. „Das ist ihr einziger Vorteil.“ Ansonsten schränkten sie unsere Bewegungen ein. „Je später der Mensch Schuhe bekommt und je weniger er sie trägt, umso gesünder sind seine Füße“, so Markus Walther, Chefarzt am Zentrum für Sportorthopädie und Fußchirurgie des Orthozentrums München.

Belegt werden solche Aussagen durch wissenschaftliche Studien in Ländern, wo viele Menschen aus finanziellen Gründen keine Schuhe tragen. In Indien oder dem Kongo stellte sich heraus, dass sich der Fuß umso eher zum Plattfuß entwickelt, je früher und je häufiger am Tag man ihn in einen Schuh zwängt.

Schuhe sind vor allem nichts für Kinderfüße. Die meisten Kinder kommen mit gesunden Füßen zur Welt. Wenn ihre Füße zunächst seltsam platt erscheinen, so ist dies nur ein Durchgangsstadium. „Sie brauchen keine Abstützung durch Schuhe und schon gar kein Fußbett“, sagt Walther. „Ihr Fuß richtet sich erst mit dem vierten bis sechsten Lebensjahr auf, wenn Bänder und Muskeln kräftiger geworden sind.“ Diese stabilisieren das federnde Fußgewölbe. Mit dem späteren klinischen Plattfuß hat diese Entwicklung nichts zu tun. Und nebenbei bemerkt: Fürs Fußballspiel sind Plattfüße kein Hindernis. Pelé schoss mit seinen Plattfüßen mehr als 1000 Tore für den FC Santos.

Für Kinder sei es am gesündesten, barfuß oder mit rutschfesten Socken zu laufen, sagt Walther. „Mit Schuhen haben sie meist Probleme.“ Für die erst Zweijährigen mit ihren noch sehr flexiblen Füßen seien die Sohlen oft zu hart. Und ungefähr die Hälfte aller Kinder trägt zu kleine Schuhe. Im Alter zwischen drei und zehn Jahren wachsen ihre Füße um bis zu drei Schuhgrößen pro Jahr – so oft wechseln die meisten Eltern die Schuhe ihrer Sprösslinge nicht. Viele Schuhgeschäfte haben außerdem nur eine Standardbreite vorrätig und nicht die drei Größen W, M und S.

Auch bei den viel verkauften Sportschuhen schielen Forscher immer häufiger aufs Barfußlaufen. Der Fuß ist von Natur aus nachgiebig und gut zum Rennen geeignet. Selbst auf harten Böden. Manche Athleten haben barfuß Höchstleistungen erzielt: Der Äthiopier Abebe Bikila gewann bei den Olympischen Spielen in Rom 1960 ohne Schuhe die Goldmedaille im Marathonlauf über 42,195 Kilometer. Die in Südafrika geborene Zola Budd stellte 1984 mit 17 Jahren einen neuen Weltrekord über 5000 Meter auf – ebenfalls barfuß. Und noch 1995 bei der Weltmeisterschaft in Göteborg übersprang Christopher Kosgei aus Kenia beim 3000-Meter-Hindernislauf Hürden und Wassergräben auf nackten Sohlen in der zweitschnellsten Zeit.

Bei Fußball-Weltmeisterschaften gilt wegen der großen Verletzungsgefahr die Schuhpflicht. Als der brasilianische Torjäger Leonidas da Silva 1938 im WM-Spiel gegen Polen wegen starken Regens Schuhe und Strümpfe ablegte und auf dem glatten Boden barfuß weiterspielen wollte, sorgte der Schiedsrichter dafür, dass er sie umgehend wieder anzog. Leonidas schoss trotz Schuhen allein in diesem Spiel vier Tore.

Der Fuß hat eine natürliche Dämpfung. Er verteilt die Last über eine Bogenkonstruktion aus 26 Knochen, aus mehr als zwei Dutzend Muskeln und über 100 Sehnen und Bändern auf Ferse und Vorderfuß. Beide sind gut gepolstert, vor allem die Ferse. Sie hat ein 15 bis 20 Millimeter dickes Fettgewebe. Das Fett ist in ein Druckkammersystem eingelagert, so überträgt sich die Kraft bei jedem Stoß auf eine große Fläche. Eine gewisse stoßartige Belastung schadet dem Fuß nicht, sondern führt im Gegenteil zu einer Steigerung der Knochenmasse.

Insbesondere in den 80er und 90er Jahren glaubte man trotzdem, jeden Laufschuh möglichst stark polstern zu müssen. Die Hersteller versahen ihn mit Kissen, die den Aufprall der Ferse auf dem Boden dämpfen sollten. „Dieser Dämpfungswahn ist zum Glück vorbei“, sagt Brüggemann. Durch die Dämpfung werde die Energie, die die Muskeln erzeugt haben, absorbiert und vernichtet. „Das kann kein Läufer wollen. Der Schuh soll nur die Kraftspitze reduzieren.“

Entgegen vielen Vermutungen tritt die größte Kraft beim Laufen nicht auf, wenn die Ferse aufsetzt. Während der Abstoßphase mit dem Vorderfuß können die Kräfte, die im Sprunggelenk wirken, anscheinend um ein Vielfaches höher sein. Die Erfahrung mit der Dämpfung habe zudem gezeigt, dass sehr weiche Schuhe Achillessehnenprobleme begünstigten, weil dadurch die Ferse leichter kippe und die Sehnen ungleichmäßig belastet würden, sagt Walther.

„Dämpfen, Stützen, Führen“ – dieses Paradigma sei kaum mehr zu halten. „Die aktuelle Schuhentwicklung zeigt eine starke Annäherung an die natürliche Bewegungssituation des Barfußlaufens auf Gras“, sagt Brüggemann. Ein dabei favorisiertes Modell ist der „Minimalschuh“. Er ist dazu gedacht, den Fuß ähnlich zu trainieren, wie Leichtathleten es bei gutem Wetter barfuß auf der Wiese tun.

Der Minimalschuh hat eine stark segmentierte Mittelsohle, ist elastisch und flach, das Obermaterial dünn und verformbar. „Grundsätzlich kann sich der Vorderfuß gegen den Rückfuß verdrehen“, sagt Brüggemann. „Man versucht heute, diesen Ansatz durch die Sohlenkonstruktion zu imitieren. Dadurch passt sich der Fuß an den Boden an und rollt besser ab.“ Je beweglicher der Fuß auch mit Schuh bleibt, umso eher kräftigt sich beim Laufen die Fußmuskulatur. Im Fußballtraining eines Vereins wie Juventus Turin werde inzwischen viel mit solchen Minimalschuhen gearbeitet.

Auch Jugendliche sollen davon profitieren. Während sie in die Länge wachsen, nimmt ihre Muskulatur vergleichsweise langsam zu, es entsteht ein Missverhältnis zwischen ihrer Beschleunigungskraft und der bereits vorhandenen Stabilität der Sehnen und Bänder.

Spieler wie Pelé erlernten ihr Fußwerk noch barfuß. Heute tragen jugendliche Spieler Fußballschuhe, deren Stollen in den Boden greifen und den Lauf abrupt bremsen. Nur so ist ein schnelles Spiel mit plötzlichen Richtungswechseln, Haken und Täuschungsmanövern möglich. Der gesamte Bewegungsablauf lässt sich allerdings nicht so kontrolliert stoppen. Während der Fuß einrastet, sind die Bewegungen in den darüber liegenden Körperabschnitten noch nicht zum Stehen gekommen.

„Je weniger man mit dem Schuh rutscht, umso stärker ist die Belastung in den Gelenken“, sagt Walther. „Entweder man hält das muskulär aus oder man reißt sich etwas.“ In der Jugend sind dies oft die Bänder am Sprunggelenk. Sind diese hinreichend gestärkt, ist die nächste Schwachstelle das Knie.

Bei den 14- bis 18-jährigen Fußballspielern zeigt sich ein rapider Anstieg der Sprunggelenksverletzungen (siehe Grafik). Jede vierte Verletzung im Fußball aber betrifft das Kniegelenk, am häufigsten unter den 20- bis 35-Jährigen. „Frauen erleiden Kniebandrupturen noch häufiger als Männer“, sagt Wolf Petersen von der Uni Münster. Mit entsprechendem Training ließen sich viele Knieverletzungen jedoch verhindern.

Wenn Profis ihre Karriere vorzeitig beenden müssen, seien sie meist aufgrund von Knieverletzungen dazu gezwungen, resümiert die Arag-Sportversicherung: Risse in den Kreuzbändern, Menisken und Kapseln. Beispielhaft dafür ist die Leidensgeschichte des Bayern-Profis Sebastian Deisler. Auch der Leverkusener Jens Nowotny hat schon vier Kreuzbandrisse hinter sich, konnte 2002 nicht an der WM teilnehmen und hofft, dass das Knie diesmal hält.

„Früher hieß es, möglichst früh mit dem Fußballspiel zu beginnen und intensiv zu trainieren, um irgendwann Champion zu werden“, sagt Thomas Henke, Biomechaniker der Ruhr-Uni Bochum. „Lars Ricken hatte bereits eine elfjährige Fußballkarriere hinter sich, als er mit siebzehneinhalb in den Profibereich überwechselte.“ Viele junge Spieler würden zu früh an die Leistungsklasse herangeführt. Das sei zu belastend für die Gelenke und zu einseitig. „Gerade durch vielfältige Bewegungen schützt man sich besser vor späteren Verletzungen.“

Thomas Grund hat dem Torwart Tim Wiese im Video mit einer speziellen Software ein Skelett eingeschrieben, an dem er berechnen kann, welche Belastungen auf welche Gelenke wirken. So versucht er herauszufinden, welchen Einfluss die Stollen auf Kreuzbandrisse haben, was einem schlechten Training oder der Belastung durch zu viele Spiele pro Saison geschuldet sein könnte.

Das Verletzungsrisiko bei den Amateuren sei aber noch höher als im Profifußball, sagt Walther. „Am allerhöchsten ist es bei Betriebssportfesten. Da paart sich höchster Ehrgeiz mit höchsten Trainingsdefiziten.“ Wenn der Chef den Angestellten zeigen will, dass er auch auf dem Rasen das Sagen hat, passierten die schlimmsten Sachen.

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