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Gesundheit: Krank in Gedanken

Nur ein Schwindelanfall? Oder doch ein Hirntumor? Wie Hypochonder leiden – und wie man ihnen helfen kann

Sven Burkes* Krankengeschichte begann in der Badewanne und endete beim Psychotherapeuten. Das ging so: Burke, 27, Jurastudent, stieg aus der warmen Wanne, als ihm plötzlich schwarz vor Augen wurde. Ein akuter Schwindelanfall. Damals, Ende der 90er Jahre, überschlugen sich in den Medien die Meldungen über BSE-Fälle. Könnte es nicht sein, schoss dem jungen Mann durch den Kopf, dass er sich den Rinderwahnsinn eingefangen hatte?

„Hin und wieder haben wir alle mal Angst, an einer schlimmen Krankheit zu leiden“, sagt Dietmar Luchmann, Leiter des Abaris-Instituts für kognitive Psychotherapie in Stuttgart; er hat den Studenten Burke behandelt.

Der Kopfschmerz, der nur ein Hirntumor sein kann. Das Blubbern im Bauch – eine Krebsgeschwulst? Das Muttermal, bestimmt bösartig! In jedem von uns verbirgt sich ein kleiner Hypochonder, der gelegentlich auftaucht und von selbst wieder verschwindet.

Nicht so bei Sven Burke. Der kleine Hypochonder in ihm blieb und wuchs. Die Angst vor der Hirnerkrankung dominierte bald seinen gesamten Lebensinhalt. „Die Schwindelanfälle häuften sich, bis er von regelrechten Panikattacken überfallen wurde“, berichtet der Psychotherapeut Luchmann. Jeder Arzt indes, den er besuchte, bescheinigte dem Studenten eine vorzügliche Gesundheit. „Körperlich war er fit.“ Nach wenigen Wochen – Burke wohnt in einer ländlichen Gegend – hatte der Mann alle Mediziner der Region abgeklappert. Keiner wollte den offenbar Kerngesunden noch untersuchen.

In seiner Verzweiflung warf Burke sich in einem Kaufhaus auf den Boden, ließ ruckartige Zuckungen durch seinen Körper gehen, fingierte einen epileptischen Anfall – um einen Notarzt und damit eine weitere Untersuchung zu erzwingen. So landete Burke in der Psychiatrie.

Hypochondrie. Jemand gilt als hypochondrisch, wenn er immer wieder die Befürchtung hegt, krank zu sein, obwohl sich dafür vom Arzt keine körperliche Ursache finden lässt. Das Wort stammt aus dem Griechischen und steht für „unter dem Rippenknorpel“: In der Antike vermutete man, die Krankheitsangst nehme ihren Ursprung in Organen unterhalb der Rippen, wie zum Beispiel der Milz. Heute weiß man, dass die Quelle der Hypochondrie nicht dem Körper, sondern dem Kopf entspringt – auch wenn jeder Hypochonder das vehement bestreiten würde.

Je nachdem, wie streng man ist, stufen Psychologen ein halbes bis sieben Prozent der Bevölkerung als hypochondrisch ein. Genauso viele Männer wie Frauen sind betroffen. Bei den meisten erreicht die Krankheitsangst zwar nicht derart dramatische Ausmaße wie bei Sven Burke, „sie beeinträchtigt aber doch den Alltag“, sagt Gaby Bleichhardt, Psychologin an der Universität Mainz. Anhand von drei Kriterien, so die Expertin, könne jeder feststellen, ob er ein Hypochonder sei:

Erstens ist da die Angst, unter einer ernsthaften Krankheit zu leiden

Zweitens: Diese Angst muss mindestens ein halbes Jahr lang durchgehend vorhanden sein

Drittens: Die Versicherung eines Arztes, körperlich gesund zu sein, beruhigt nicht.

Mit Hilfe dieser Liste lässt sich der Hypochonder zwar leicht erkennen – aber wie entsteht die Störung? Steht am Anfang immer ein traumatisches Erlebnis? Die Krankheit des Vaters oder der Mutter zum Beispiel? Was löst die Hypochondrie aus?

Die Wissenschaft tappt da noch weitgehend im Dunkeln. „Manche Hypochonder haben während ihrer Kindheit erlebt, dass Kranksein auch seine positiven Seiten hat“, sagt Bleichhardt. Sie wissen: Wer krank ist, bekommt Aufmerksamkeit, sei es vom Partner, von Verwandten oder von einem Arzt.

Viele Faktoren kommen hinzu. „Hypochonder haben die Veranlagung, den eigenen Körper besonders wachsam wahrzunehmen“, sagt Luchmann. Muskeln, Atmung, Herzschlag – alles wird genauestens registriert.

Entscheidend aber, so vermuten die Forscher, sind die verzerrten Gedanken, die für die Hypochondrie typisch sind, wie auch für viele andere psychische Leiden: Hypochonder nehmen die Signale ihres Körpers nicht nur äußerst feinfühlig wahr, sie beurteilen sie auch falsch. Jedem Menschen ist mal schwindlig. Nur der Hypochonder deutet dieses Zeichen als Hirnerkrankung und lässt sich von seiner Fehlinterpretation nicht abbringen.

Zumindest nicht so leicht. „Lange dachte man, bei Hypochondern kann man eh nichts machen, also wurden die Therapiemöglichkeiten nur wenig erforscht“, sagt Bleichhardt. Das hat sich erst in den letzten Jahren geändert.

Zunehmend haben Psychologen erkannt, dass man Hypochondern sehr wohl helfen kann, indem man ihnen ihre verzerrten Gedanken aufzeigt und diese korrigiert – „kognitive Verhaltenstherapie“ nennt sich das im Fachjargon. Einem Patienten, der seine Magenbeschwerden als Krebsgeschwulst interpretiert, könnte man helfen, indem man ihn darüber aufklärt, dass es noch Dutzende andere Ursachen für sein Leiden geben könnte, etwa Stress im Beruf oder Alkoholkonsum.

Im letzten Monat veröffentlichten zwei Psychiater aus den USA eine Studie, die die Wirksamkeit der kognitiven Therapie untermauert. Sie behandelten 102 Hypochonder in sechs Sitzungen. Ein halbes Jahr und ein Jahr später zeigte sich, dass sich die Krankheitsangst bei vielen Patienten deutlich gemildert hatte.

Ein Viertel der Beteiligten war allerdings vorzeitig aus dem Therapieprogramm abgesprungen. Eine Behandlung „passt schließlich nicht zu ihrer Überzeugung“, wie Studienleiter Arthur Barsky von der Harvard-Universität im amerikanischen Cambridge sagt: Der Hypochonder zeichnet sich ja eben dadurch aus, dass er hartnäckig daran glaubt, seine Krankheit sei real und nicht Einbildung.

Und Sven Burke? „Er hat seine Denkfehler behoben und das Staatsexamen mit einer Eins gemacht“, sagt Luchmann. Für Erfolge wie diese liebe er seinen Beruf. „Ich habe mich über seine Eins fast genauso gefreut wie er.“

* Name von der Redaktion verändert

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