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Gesundheit: Kreuzunglücklich

Unter Rückenschmerzen leidet fast jeder mal im Leben. Mehr oder weniger lange. Wann ist eine Operation sinnvoll?

Kreuzschmerz. Das heißt: Bandscheibe. Und das heißt Operation? Falsch! Unter Schmerzen in der Gegend der Lendenwirbelsäule leiden drei von vier Menschen irgendwann im Leben. In 85 Prozent aller Fälle verschwinden sie von selbst. Wenn aber der gewöhnliche Rückenschmerz chronisch wird, liegt das oft an einer veralteten Behandlung: Bettruhe.

Das Beste, was man – abgesehen von der Schmerzbehandlung – gegen Kreuzschmerzen tun kann, ist: sich bewegen. Sobald möglich wieder seinen gewohnten Tätigkeiten nachgehen. Darin stimmen alle neueren Fachpublikationen, Leitlinien und Empfehlungen überein.

Bewegung gilt heute sogar dann als Mittel der Wahl, wenn – wie in vier bis fünf Prozent aller Fälle von Kreuzschmerzen – die Nervenwurzeln gereizt sind. Meist kommt es dazu, weil eine Bandscheibe vorgewölbt oder vorgefallen ist.

Ein Vorfall muss durchaus keine Beschwerden bereiten. Aber wenn ein bewegungsungewohnter Schreibtischmensch eine Kiste Mineralwasser hebt und dabei die Wirbelsäule verdreht, ist es passiert: Von vorgelagertem Gewebe werden Nerven bedrängt, oft der Ischiasnerv; die Schmerzen strahlen ins Bein aus, Kribbeln oder Taubheit können hinzukommen. Dann sind aus dem Wirbelkanal austretende Nervenwurzeln und das umgebende Gewebe entzündlich geschwollen. Die Muskeln verspannen sich, die Venen werden gestaut, und für den komprimierten Nerv wird es immer enger. Ein Teufelskreis.

Durch Bewegung, die etwa den Venenstau beseitigt, könne er durchbrochen werden, sagt Jürgen Krämer von der Orthopädischen Uniklinik Bochum. Vorgefallenes Bandscheibengewebe kann vom Körper aufgelöst werden, eine Operation ist meist nicht nötig. Die Bochumer Uni-Orthopäden behandeln zwei Drittel selbst jener Patienten, die zum Eingriff eingewiesen wurden, nicht chirurgisch, sondern ohne Operation – aus gutem Grund.

Noch vor kurzem wurden viel zu viele Rückenleidende operiert. Oft war das Ergebnis katastrophal. Gute Chirurgen operieren deshalb nicht gleich, selbst wenn die Patienten drängen. Sie warten ab, ob eine konservative Behandlung den Zustand bessert. Sie untersuchen den Patienten körperlich genau, ehe sie ihn röntgen. Und sie wägen gemeinsam mit ihm Nutzen und Risiken einer Operation ab. Nur in einem (Not-)Fall ist schnelles Handeln Pflicht: beim „Reithosen-Syndrom“, wobei im Unterleib, dort, wo eine Reithose verstärkt ist, Lähmungen auftreten, die auch die Blasen- und Darmfunktion gefährlich stören können. Nervenausfälle im Bein und starke Schmerzen trotz wochenlanger Behandlung können einen Eingriff ebenfalls rechtfertigen. Kreuzschmerz allein wird durch den Eingriff oft nicht positiv beeinflusst.

„Die berichteten Erfolgsraten für die operative Behandlung von Bandscheibenvorfällen schwanken zwischen 49 und 90 Prozent“, heißt es in der Leitlinie „Kreuzschmerzen“ der Allgemeinmediziner. Einen notwendigen und Erfolg versprechenden Eingriff muss man nicht fürchten. In der Regel ist er wenig belastend, denn die Technik wurde verfeinert.

Allerdings warnen Ärzte vor unrealistischen Erwartungen an neue „minimal-invasive“ Verfahren. Sie seien meist „wissenschaftlich nicht im Geringsten evaluiert und damit nicht beurteilbar“, heißt es in einer Stellungnahme des Gießener Hochschul-Neurochirurgen Dieter Karsten Böker. „Nichtsdestotrotz finden diese Verfahren in den Medien eine große Resonanz, wobei allein schon das Schlagwort ,minimal-invasiv’ geradezu Zauberkraft zu besitzen scheint.“

Oft werde nur die kurze Krankenhausdauer herausgestellt, aber nichts über die Ergebnisse berichtet. Für die Wirksamkeit der „Laserdiskektonomie“ oder der „Automatisierten perkutanen Diskektomie" fehlten wissenschaftliche Belege. Die Chemonukleolyse – die Auflösung des Bandscheibenkerns mit dem Enzym der Papayafrucht, das auch als Fleischweichmacher verwendet wird – sei zwar weniger eingreifend, aber auch weniger effektiv als die offene Operation.

Die offene Bandscheibenoperation wurde vor 70 Jahren eingeführt und gilt heute noch als Standard, wobei aber zunehmend subtilere Techniken angewandt werden. Durchgesetzt hat sich die Mikrochirurgie: Nach einem kleinen Hautschnitt wird die Muskulatur von der Wirbelsäule abgedrängt, was die Muskeln nur wenig verletzt. Durch ein spreizbares Spekulum, einen feinen Arbeitskanal, führt der Arzt Instrumente ein. Unter einem Mikroskop entfernt er schonend und präzise das Bandscheibengewebe, das Nervenwurzeln bedrängt.

Eine Variante schilderte kürzlich vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft Heinrich Böhm, Orthopädie-Chef in der Zentralklinik Bad Berka: Der Hautschnitt ist noch kleiner, die Muskeln werden mit mehreren zunehmend dickeren Röhrchen auseinander gedrängt, um den Arbeitskanal zu schaffen. Böhm bezeichnet die Methode als noch schonender, die Ergebnisse seien denen der klassischen Mikrochirurgie vergleichbar.

Er beschrieb auch ein endoskopisches Verfahren, bei dem zwei dünne, flexible Röhrchen durch die Haut zur Bandscheibe vorgeschoben werden: eins als Arbeitskanal für die Instrumente, das andere für die Optik. Der Operateur hat dabei zwar einen direkten Blick auf sein Arbeitsfeld, sogar „um die Ecke“. Er sieht aber alles nur zweidimensional. Die Ergebnisse sind etwa die gleichen wie bei den mikrochirurgischen Verfahren.

Für den Operationserfolg sei ohnehin weniger die Methode entscheidend als die Indikation, urteilt der Orthopäde Jürgen Krämer. Bevor man sich – außer im Notfall – zu einem Eingriff entschließt, sollte man unbedingt eine zweite Meinung zu der Frage einholen: Ist eine Operation sinnvoll?

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