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Gesundheit: Mandelkern und Mathe

Brauchen wir Neurobiologie im Klassenzimmer?

Der Neurobiologe ist begeistert: „Die Neurowissenschaften haben die Regeln fürs Lernen erstmals in einen konzeptionellen Rahmen gestellt.“ Die Lernforscherin kontert: „Ich glaube nicht, dass man aus der Hirnforschung bisher irgendetwas über guten Unterricht ableiten kann!“ Neurobiologie im Klassenzimmer? In einem öffentlichen Streitgespräch in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erlebte das Publikum zwei temperamentvolle Berliner Professoren, die Psychologin und Lernforscherin Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und den Neurobiologen Randolf Menzel von der FU.

Der inszenierte Streit spitzte die Diskussionen der internationalen Tagung „Science is primary“ zu, in der es um Projekte zum naturwissenschaftlichen Unterricht in Grundschulen ging. Vorgestellt wurde dort zum Beispiel ein französisches Grundschulprogramm, nach dem Zehntausende von Grundschulklassen im ganzen Land experimentieren. Anschaulich sein, die Neugier anregen, an Alltagsbekanntes anknüpfen, Sinneserfahrungen einbeziehen – das sind altbekannte Regeln für erfolgreiches Lehren und Lernen. Erst die Neurobiologie aber habe die kausalen Begründungen für diese Regeln geliefert, sagt Menzel. Anschaulichkeit sei deshalb wichtig, weil sie das bildhafte Gedächtnis anspreche. So ließen sich Assoziationsketten herstellen. Auf die Neugier komme es an. Ohne die modulatorischen Systeme, etwa das Belohnungssystem, im Gehirn kämen Lernprozesse nicht in Gang.

Aber warum führten diese Prinzipien bisher nicht zum gewünschten Erfolg, fragte kritisch Elsbeth Stern? „Etwa, weil früher die Rolle von Hirnregionen wie dem Mandelkern oder Botenstoffen wie Dopamin noch nicht bekannt waren?“ Die Lernforscherin sieht einen anderen Grund: Die Ratschläge seien zu allgemein. „Sie müssen spezifiziert werden, sonst sind sie sogar schädlich!“ Und dabei helfe den Lehrern nicht die Hirnforschung, sondern ihr „fachspezifisches pädagogisches Wissen“.

Von „hirngerechtem Lernen“ zu sprechen, erscheint der Psychologin nicht hilfreich. Vor allem, wenn es um Kulturtechniken geht, die in der Menschheitsgeschichte noch jungen Datums sind. „Die Neurobiologie weiß nichts darüber, was man mit Sechsjährigen tun muss, damit sie mit 16 die Differentialrechnung verstehen“, sagt Stern. Sie ist überzeugt: Lernen ist immer an Inhalte gebunden. Wenn die Wissenschaft für sie keine Beschreibungsebene findet, bleibt sie nutzlos.

Die Tagung, auf der Stern und Menzel stritten, ist eine von sieben Konferenzen im Rahmen des EU-Projekts „Scienceduc“, die in diesem Jahr in Frankreich, Schweden, Estland, Portugal, Ungarn, Italien und Deutschland stattfinden. In Frankreich und Schweden haben sich inzwischen auch die altehrwürdigen Akademien der Wissenschaften das Anliegen zu eigen gemacht, Kinder von klein auf altersgemäß an die Naturwissenschaften heranzuführen. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften steht also mit ihrem Bemühen nicht allein, wie Akademiemitglied Menzel hervorhob.

Adelheid Müller-Lissner

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