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Gesundheit: Merkwürdig und charismatisch

Es war ein heißer Sommernachmittag im Rheinland. Langsam strömten reisemüde junge Menschen in das Erdgeschoß des Akademischen Auslandsamtes der Universität Bonn.

Es war ein heißer Sommernachmittag im Rheinland. Langsam strömten reisemüde junge Menschen in das Erdgeschoß des Akademischen Auslandsamtes der Universität Bonn. Viele von uns hatten lange Wege hinter sich: Einige waren aus Moskau mit dem Zug angereist, andere mit dem Bus aus Sofia, Prag oder Vilnius und wiederum andere - wie ich - mit dem Flugzeug aus New York. Instinktiv ordneten wir uns nach Herkunftsland in kleine Gruppen, von denen aus wir neugierig in die anderen Gruppen schauten. "So, das sind die künftigen Journalisten und Politiker von dort!", dachte wohl mancher - ich jedenfalls.

Am folgenden Tage wurden wir feierlich von einem Bundestagsabgeordneten begrüßt sowie vom Rektor der Bonner Universität und Vertretern der Bundestagsverwaltung. Für das Bestehen eines harten Auswahlprozeßes erhielten wir Glückwünsche. Dann mußte sich jeder vorstellen in der großen Runde der 72 Stipendiaten aus Bulgarien, Estland, der GUS, Frankreich, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, der Tschechischen Republik, Ungarn und den USA.

Fünf Wochen lang besuchten wir dann in kleinen Gruppen die politischen Stiftungen Deutschlands, die ein volles Programm für uns vorbereitet hatten. Über Themen wie europäische Sicherheitspolitik, wirtschaftliche Globalisierung und die Geschichte Deutschlands diskutierten wir mit Referenten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.

In den Seminaren, die den ganzen Tag liefen und bisweilen bis in die Nacht hinein dauerten, lernten wir eine Menge - nicht zuletzt, indem wir einander kennenlernten. Es entwickelte sich bald eine anregende Atmosphäre des ständigen Austausches, begleitet von einem regelrechten Sturm verschiedener Perspektiven. Jedes Tischgespräch konnte plötzlich zu einer Einführung in die Gegenwart und Geschichte eines anderen Landes werden.

Nach einem Semester an der Universität Bonn begann endlich die eigentliche Arbeit, die Vollzeitbeschäftigung im Büro eines Bundestagsabgeordneten. Aufgrund meines Wunsches, mit einem Außenpolitiker zu arbeiten, wurde ich dem Vorsitzenden des Unterausschusses für die Vereinten Nationen und Internationale Organisationen zugeteilt. Der Abgeordnete entsprach all meinen Kriterien - und keinen meiner bisherigen Vorstellungen von einem deutschen Politiker.

Der relativ junge SPD-Abgeordnete Eberhard Brecht aus Sachsen-Anhalt hatte vor der Wende als Biochemiker an wissenschaftlichen Instituten in der DDR gearbeitet, während der Wende war er als Sozialdemokrat in die Volkskammer gekommen. Ich erwartete also einen etwas grauen Intellektuellen, vielleicht mit der Verbissenheit eines ostdeutschen Dissidenten. Mich erwartete etwas Anderes. An meinem ersten Arbeitstag begrüßte mich ein recht jugendlich aussehender Mann mit charismatisch strahlendem Lächeln, der unser erstes Gespräch zu außenpolitischen Themen in einem gepflegten - und erst vor kurzem gelernten - Englisch anfing. Dabei verstand er es gut, mein Wissen zu erkunden und einen dezenten advocatus diaboli zu spielen.

Nachher lernte ich auch seine vielen anderen Rollen kennen - als ostdeutscher Politiker, als Außenpolitiker, als Volksvertreter in einem Wahlkreis mit bis zu 20 Prozent Arbeitslosigkeit. Und das war eben das Faszinierende an der Erfahrung als sein Assistent und gelegentlich auch sein Mitreisender: zu sehen, wie er die Probleme und Anliegen sowohl eines kleinen Betriebs als auch einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen erfassen und sich mit ihnen identifizieren konnte - auch wenn das in seinem Wahlkreis und bei den Vereinten Nationen in Wien sehr unterschiedliche Verhaltensweisen erforderte.

Die Vorbereitung und Beobachtung von Sitzungen der Ausschüsse und Arbeitsgruppen im Bundestag war, neben dem ständigen Sammeln und Lesen von Informationen zu verschiedenen Spezialthemen, meine Hauptbeschäftigung. Für mich als Amerikaner waren dabei die verschiedenen Ausschußsitzungen besonders merkwürdig. Denn unter Politik will mein amerikanisches Politikverständnis interessengeleitete Entscheidung und deswegen auch Konflikt verstehen. Doch in der "Arbeitsgruppe deutscher Einheit", wo es in manchen Fällen um ganz handfeste wirtschaftliche Interessen zu gehen schien, blieb die Diskussion eben - Diskussion. Das hat mich sogar veranlaßt, meinen Abgeordneten zu fragen: "Der Konsens ist so beeindruckend, wozu denn dann die ganze Diskussion? Soll der Konsens ein Prozeß des Nichtstuns sein?" Er lachte und machte einen Scherz, gab aber keine Anwort. Rückblickend glaube ich, daß es vielleicht eben solche Fragen waren, welche die Zeit mit mir auch für ihn lohnend machte.

Man kann den Bundestag um seine praktische Weisheit bewundern, daß er in einem Programm Mittel- und Osteuropäer mit Franzosen und Amerikanern zusammenbringt, damit sie das deutsche Parlament und die deutsche Demokratie aus erster Hand erfahren und verstehen. Ein ähnliches Programm für Deutsche im US-Kongreß wurde vor einiger Zeit von ehemaligen US-amerikanischen Stipendiaten entwickelt, es wartet nur noch auf Sponsoren und die Unterstützung des Kongresses. Es bleibt zu hoffen, daß die Einsicht in den Wert eines solchen Programmes auch auf amerikanischer Seite obsiegt.

Colin Guthrie King stammt aus Freedom, Maine, USA. Er studiert seit Oktober 1998 Philosophie, Politikwissenschaft und Altgriechisch an der Humboldt-Universität. Von Februar bis Mai vergangenen Jahres war er Praktikant bei dem Bundestagsabgeordneten Eberhard Brecht (SPD, Wahlkreis Quedlinburg).

Die internationalen Parlaments-Praktika

Das Bundestag Internship Programm für US-amerikanische Hochschulabsolventen besteht seit 1983 und wird in seiner jetzigen Form seit 1986 durchgeführt; über 200 Stipendiaten aus den USA haben bisher daran teilgenommen. Es dauert neun Monate. Seit 1989 kommen auch Praktikanten aus Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens, seit 1990 Stipendiaten aus Mittel- und Osteuropa.

Am Donnerstag findet in Bonn die feierliche Übergabe der Internationalen Parlaments-Praktika an die Humboldt-Uni statt, die das Programm in Zukunft organisieren wird. Dabei sprechen der Präsident der Universität Bonn, Borchardt, HU-Präsident Meyer, der Bundestagspräsident Thierse und der Bundestagsabgeordnete und Mitglied des Ältestenrates Börnsen (CDU).

Anfragen sind zu richten an: Internationale Parlaments-Praktika, Akademisches Auslandsamt, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin.

COLIN GUTHRIE KING

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