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Gesundheit: Moral: Ethik ist oft nur Kosmetik

"Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!" Nicht erst seit dem Dichterfürsten Goethe herrscht Einigkeit, dass wir unsere egoistischen Antriebe unterdrücken sollen.

"Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!" Nicht erst seit dem Dichterfürsten Goethe herrscht Einigkeit, dass wir unsere egoistischen Antriebe unterdrücken sollen. Doch die Zeitgenossen, die nach außen hin mit hohen moralischen Ansprüchen hausieren gehen, rufen leicht Skepsis und Argwohn hervor. Auch die Ergebnisse der experimentellen Psychologie unterstreichen jetzt, dass ethische Prinzipien oft nur einen heuchlerischen Charakter haben. Personen, die nach außen hin hohe moralische Werte vertreten, werden schon in der Bibel mit Misstrauen beäugt. "Wir sehen leichter den Splitter bei anderen als den Balken im eigenen Auge" und "Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden", heißt es dort. Der fromme und rechtschaffene Pharisäer ist zum Inbegriff des verlogenen Heuchlers geworden.

Mit den Zweifeln an der Echtheit von Moralbekundungen hat die Bibel eine aktuelle soziobiologische Debatte vorweggenommen. Wie kann es sein, dass Menschen moralisch handeln und ihr Eigeninteresse zugunsten eines fremden Wohls oder höherer ethischer Grundsätze zurückstellen? Schließlich lehrt die Evolutionsbiologie, dass nur Verhaltensweisen Bestand haben, die dem Individuum einen Vorteil in seiner "Fitness", also im wesentlichen in der Anzahl seiner Nachkommen bringen.

Alles nur "Entgleisungen"?

Diese Frage wird besonders bedeutsam, wenn ethische Grundsätze Schiffbruch erleiden, geben die beiden Psychologen C. Daniel Batson und Elizabeth R. Thompson von der University of Kansas im Fachblatt "Current Directions in Psychological Science" (Band 10, Seiten 54 ff) zu bedenken. Nicht nur die Schrecken der Nazizeit und die Gräuel im ehemaligen Jugoslawien machen deutlich, wie schnell unsere Spezies in die Barbarei verfällt.

Wer glaubt, dass moralische Grundsätze eine authentische Substanz besitzen, wird solche "Entgleisungen" mit einem ethischen Defizit erklären: Die Übeltäter hatten die moralischen Prinzipien nicht richtig verinnerlicht oder falsch aufgefasst. Es könnte auch sein, dass bereits etablierte moralische Grundsätze unter extremen Bedingungen und bei starkem sozialen Druck außer Kraft gesetzt werden.

Eine alternative Erklärung stellt dagegen radikal die Authentizität ethischer Prinzipien in Frage, betonen die beiden Forscher: Die Funktion moralischer Grundsätze besteht demnach gar nicht darin, moralisch zu handeln, sondern in erster Linie darin, moralisch zu erscheinen. Der moralische Heuchler möchte den Eindruck erwecken, ein "guter Mensch" zu sein, aber er ist innerlich nicht bereit, im Ernstfall die Kosten für dieses Image zu zahlen. Wenn es möglich ist, dem Eigeninteresse zu frönen, ohne die moralische Fassade zu gefährden, gibt der moralische Heuchler dem Ruf der Selbstsucht nach.

Um dieses unschmeichelhafte Menschenbild zu testen, haben die Psychologen Versuchspersonen in mehreren Experimenten die Möglichkeit geboten, nach außen hin "anständig" zu erscheinen, ohne den Preis des anständigen Verhaltens zu entrichten. Es bestand die Wahl zwischen einer interessanten Aufgabe, die mit einem Lotterie-Ticket belohnt wurde und einer langweiligen, nicht belohnten Aufgabe. Die Teilnehmer hatten die Freiheit, die beiden Aufgaben zwischen sich und einem weiteren, nicht anwesenden Probanden aufzuteilen, der nichts von der Rolle des Aufteilers erfahren würde.

In diese Basisversion des Experimentes, in der keine moralischen Prinzipien transparent gemacht wurden, schusterten sich 80 Prozent der Teilnehmer ungeniert selbst den angenehmen Part des Versuches zu. In diesem Fall siegte also die blanke Selbstsucht, zumal es keine Möglichkeit zum Vortäuschen höherer Motive gab. Die meisten Probanden bekannten hinterher auch ausdrücklich, dass ihr Verhalten moralisch nicht in Ordnung gewesen war.

In einer Variante des Versuches wurden die Teilnehmer jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es moralische Lösungen für die Verteilung gab. So wurde explizit die Möglichkeit angeboten, die Zuteilung zu den beiden Aufgaben durch den Wurf einer Münze zu entscheiden. Im Nachhinein pflichteten die meisten Probanden bei, dass die moralischste Lösung im Wurf der Münze oder im selbstlosen "Opfern" der interessanten Aufgabe bestanden hätte. Aber nur rund 50 Prozent machten vom gerechten Münzwurf Gebrauch.

So ein Zufall

Von den Teilnehmern, die ohne Münze entschieden, schusterten sich wieder 80 bis 90 Prozent die interessante Aufgabe zu. Doch viel aufschlussreicher war das Verhalten der Münzenwerfer: Fast 90 Prozent von ihnen gaben an, dass der Zufall ihnen die angenehme Aufgabe zugewiesen hätte. Dieser seltsame Drall kam sogar ans Tageslicht, wenn man die eine Seite der Münze mit "Selber Aufgabe" und die andere mit "Der Andere Aufgabe" beschriftete. Bei einem echten Zufallsentscheid wäre die Aufteilung immer fifty/fifty ausgefallen.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Mehrheit der Münzenwerfer den Zufallsentscheid im Sinne des Eigeninteresses verdrehte. "Fair zu erscheinen, indem man die Münze wirft, und dann doch der Selbstsucht zu frönen, indem man das Ergebnis des Münzwurfes türkt, muss als klarer Fall moralischer Heuchelei gewertet werden."

Das Makabere daran war, dass diese Manipulatoren ihr eigenes Verhalten im Nachhinein als moralisch hoch stehend bewerteten. Noch schlimmer: Just jene Versuchsteilnehmer, die im Vorfeld der Studien die höchsten moralischen Ansprüche vertraten, logen sich beim Wurf der Münze am stärksten in die Tasche. Wie es scheint, hat bereits Jesus das geahnt.

"Wir möchten zwar nicht behaupten, dass überhaupt keine moralische Integrität existiert", schreiben die Autoren, "aber der Schein kann äußerst täuschend sein, und die Kraft der moralischen Integrität wird vermutlich viel zu hoch eingeschätzt." Man kann im Leben kein moralisches Verhalten erwarten, wenn der Moralist sein Tun von den Kosten abhängig macht. Doch es sind gerade die mit hohen Kosten verbundenen Taten, in denen Moralität erst ihren wahren Sinn erhält. Da, wo es salbungsvoll von Moral und Ethik tönt, bleibt Skepsis angesagt.

Rolf Degen

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