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Gesundheit: Nichts gelernt

Ein neues Lehrerstudium ist überfällig. Doch Berlin frustriert die nächste Generation junger Pädagogen

Eingetretene Türen, Pöbeleien, Messerstechereien – auf die Vorfälle an der Rütli-Schule reagierten die Politiker mit drastischen Forderungen nach Schnupperknästen oder Abschiebung. Das Naheliegende jedoch blieb außen vor: der Blick auf die seit Jahrzehnten kritisierte Ausbildung der Lehrer. Dabei haben es die Pädagogen inzwischen selbst an Gymnasien mit „milieugeschädigten“ Schülern zu tun. Das Studium aber zielt weiter auf das pflegeleichte Mittelschichtkind, das pädagogische Hilfe nicht braucht.

Als Berlin vor vier Jahren endlich eine große Reform ankündigte, waren die Hoffnungen auf einen Neuanfang groß. Inzwischen sind sie geschwunden: „Insgesamt kommt kaum mehr raus, als wir bisher hatten“, stellt ein Uni-Experte fest, der anonym bleiben will. Die Chance, die nächste Lehrergeneration zeitgemäß auszubilden, wird wohl vertan.

Aus Sicht von Jörg Ramseger, Professor für Schulpädagogik an der Freien Universität Berlin, verschlechtert die Reform die Ausbildung sogar: Während die Ansprüche an die Lehrer immer größer werden, schrumpft die Zeit für Übungen in der Schule. Das Referendariat wird von 24 auf zwölf Monate verkürzt, die Referendare müssen erheblich mehr unterrichten als früher (siehe Kasten). „Ich kann nicht verstehen, wie das nach Pisa möglich ist“, sagt Ramseger. Bemühungen, das entfallene Praxisjahr wenigstens teilweise ins Studium an der Universität zu verlagern, gibt es nicht. Es bleibt bei kurzen Stippvisiten in der Schule: zwei bis drei Praktika von etwa vier Wochen Länge – viel zu wenig, um den Umgang mit Schülern trainieren zu können. So fühlten sich viele nach ihrem Studium der Schulwelt entfremdet. Sie erlitten den Praxisschock oder stellten sogar erst am Ende eines langen aufwändigen Studiums fest, für den Beruf des Lehrers nicht geeignet zu sein. Die Reform wird daran nichts ändern.

Dabei hätte es für Berlin gleich nebenan ein Vorbild gegeben. In Brandenburg steht das „Potsdamer Modell“ seit jeher für eine schulnahe Ausbildung, die neuen Abschlüsse Bachelor und Master werden daran nichts ändern. Bereits in den sechs Semestern des Bachelorstudiums sind fünf Praktika vorgeschrieben, das erste zur Orientierung schon im ersten Semester. Auch Brandenburg verkürzt das Referendariat, doch nicht wie Berlin um ein Jahr, sondern nur um ein halbes. Anders als Berlin tilgt Brandenburg dieses halbe Jahr auch nicht einfach aus seiner Ausbildung, sondern verlagert es ins Masterstudium: Das gesamte zweite Semester absolvieren die Studierenden in der Schule, betreut und begutachtet von erfahrenen Lehrern und Professoren. „Eine Revolution“ nennt das Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Grundschulpädagogik in Potsdam. Einen nur zweisemestrigen Master wie in Berlin wird es in Potsdam für Lehrer nicht geben: Grundschullehrer machen einen dreisemestrigen, die übrigen Lehrer einen viersemestrigen Master.

Als Berlin sich gegen eine Praxisoffensive entschied, geschah dies angeblich zum Nutzen der Studierenden: „Man kann doch nicht davon ausgehen, dass man zum guten Lehrer nur dadurch wird, dass man möglichst frühzeitig den Schlendrian irgendeiner Praxis erlebt“, erklärte Heinz-Elmar Tenorth, als damaliger Vizepräsident der Humboldt-Uni für die Berliner Reform mitverantwortlich, vor zwei Jahren. „Zuerst muss man an der Universität lernen, die Schule aus der Distanz sehen zu können.“ Auch müsse man die Kinder vor nicht ausgebildeten Lehrern „schützen“. Diese Auffassung scheint in Berlin nun umgesetzt zu sein.

Bedeutet Praxis Schlendrian? Die Potdsamer Studierenden kommen in spezielle Ausbildungsschulen, darunter solche in Berliner Brennpunkten, die eng mit den Unis kooperieren. Die Aufgaben, die die Studierenden in der Schule bearbeiten, ergeben sich oft aus Projekten ihrer Professoren: „Die Studierenden absolvieren eine forschungsorientierte Praxisphase“, sagt Schründer-Lenzen.

Besonders engagierten Studierenden eröffnet die Professorin die Chance, zusätzlich in zwei Modellprojekten zu arbeiten. Unterstützt von der Mercator-Stiftung und vom Verein Berliner Kaufleute und Industrieller, erteilen die Studierenden Migrantenschülern weitgehend selbstständig Förderunterricht – mit Erfolg für beide Seiten. „Ich würde diese Erfahrung jedem Seminar vorziehen“, sagt ein Student.

Unterdessen frustriert das neue Studium in Berlin die nächste Lehrergeneration. Magdalene Kaiser, angehende Sonderpädagogin im vierten Semester an der Humboldt-Universität, hat sich das Studium „insgesamt anders vorgestellt. Man will doch wissen, was man in der Klasse macht.“ Dabei ist der Studentin durchaus bewusst, dass auch „Theorie wichtig ist“. Doch eine andere Frage ist deren Umfang im Verhältnis zur Praxis – und ihre Relevanz. Seit jeher hängt es vom Dozenten ab, ob er theoretische Fragen mit Nutzwert für die Studierenden aufwirft.

Zu denen, die sich darum bemühen, gehört Gudrun Doll-Tepper, Professorin für Integrationspädagogik an der FU: „Aus eigener Betroffenheit“, wie sie sagt. Auch Doll-Tepper wurde als Junglehrerin ohne ausreichende Vorbereitung „ins kalte Wasser“ der Schule geworfen: Sie sah Kollegen, die unter dem Druck der Provokationen fast zusammenbrachen, und stand kurz davor, sich mit einem Schüler zu prügeln. Selbst wenn ihre Kurse an der Uni 130 Teilnehmer haben, versucht Doll-Tepper, Anregungen für ihren Auftritt vor der Klasse zu geben, Rollenspiele zu machen oder auch Schülergruppen zu finden, die die Studierenden betreuen können. All das scheinen Selbstverständlichkeiten zu sein, doch im Unialltag handelt es sich um Ausnahmen.

Sicherlich, mit der Reform dürften die bislang überlangen Studienzeiten der Lehrerstudierenden von im Schnitt 17 Semester auf ein Normalmaß schrumpfen. Außerdem sollen neue Vorgaben der Kultusministerkonferenz die Unis zu mehr Verbindlichkeit zwingen: Die Professoren müssen sich mit ihren Kursen an Kompetenzen ausrichten, die von den Studierenden am Ende ihres Studiums verlangt werden. Doch reicht das?

Die Studentin Magdalene Kaiser wird als Lehrerin verhaltensgestörte Schüler unterrichten, solche, die von der Haupt- an die Sonderschule verwiesen wurden, darunter viele Migranten. „Das ist ein Riesenproblem“, sagt sie. „Im Studium habe ich dazu noch nichts gelernt.“ Kein Wunder: „Für eine gezielte Reflexion von Erziehungsproblemen wie an der Neuköllner Schule gibt es den Plänen zufolge im gesamten Studium gerade mal zwei Lehrveranstaltungen“, kritisiert Ramseger.

Allerdings würden zusätzliche Kurse auch kaum helfen, solange ihre Inhalte für die Schulwelt belanglos sind. Berüchtigt im bisherigen Lehramtsstudium ist der einsemestrige Kurs zum „Unterricht mit Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache“, mit dem die Studierenden den so genannten „Ausländerschein“ erwerben. Rainer Lehmann, Professor für Erziehungswissenschaft an der Humboldt- Universität, ist „sicher, dass dabei oft abseitige Themen“ behandelt werden. Er selbst bemüht sich um Relevanz. Im kommenden Semester geht es in seinem Kurs um „Schullaufbahn und Schulerfolg von Migrantenkindern“. „Aber ich weiß, dass ein Semester nicht entfernt reicht“, sagt Lehmann. Auch fühlt sich der Experte für Empirische Bildungsforschung und Methodenlehre selbst nicht geeignet, angehenden Lehrern praktische Empfehlungen zum Umgang mit Schülern auf den Weg zu geben. Die meisten Erziehungswissenschaftler sind Theoretiker, die nie in der Schule unterrichtet haben. So hält Lehmann es für „unrealistisch“, dass Berlins Studenten in Zukunft hinreichend auf die Arbeit mit Migranten vorbereitet werden.

Wie konnte es dazu kommen, dass die seit langem überfällige Reform des Lehrerstudiums alten Wein in neue Schläuche gießt? Ein Kartell der Bequemlichkeit hat sich durchgesetzt. Vor allem gilt, was die OECD über Deutschland schrieb: „Die Universitäten sind häufig wenig geneigt, die Lehramtsausbildung als eine ihrer Schlüsselfunktionen zu betrachten.“ Kommt Druck von außen, berufen sich die Unis auf die ihnen in der Verfassung garantierte Freiheit in Forschung und Lehre oder auf ihre knappen Ressourcen: Die Personaldecke bestimme die Grenzen der Reform, sagt denn auch Dieter Lenzen, Präsident der FU. So sieht es auch Susanne Baer, Vizepräsidenten der HU. Zwar seien neue Lehrformen und Inhalte im Lehrerstudium nötig. Doch Detailregelungen durch die Schulverwaltung passten weder zur Hochschulautonomie noch seien sie zum Nulltarif zu leisten.

Unterdessen gibt sich Berlins Bildungssenator Klaus Böger optimistisch. Jeder Studierende werde sich intensiv mit interkulturellen Aspekten beschäftigen: „Die Reform wird den Ausbildungsort Schule stärken und Studierende systematisch in den Unterricht einbeziehen“, glaubt er.

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