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Gesundheit: Radikaler der Mitte

Dem Historiker und Gesellschaftskritiker Arnulf Baring zum 75. Geburtstag

Er spielt unbestreitbar eine öffentliche Rolle, obwohl er als Professor längst emeritiert ist und auch kein Amt bekleidet. Aber die Talkrunden und Podien haben Arnulf Baring fest auf der Besetzungsliste, sein Publikum hat er allemal. Auf seine Fähigkeit, auch der ledernsten unserer Bekümmerungsrunden noch einen Kick zu geben, ist Verlass. Und in der Tat rüttelt er stets an den Markierungen des Zeitgeistes. An Kritik fehlt es hierzulande ja nicht, aber wer wäre denn sonst auf die Idee gekommen, den Bürger, die Bürger auf die Barrikaden zu rufen?

Die ungewöhnliche Figur, irgendwo zwischen der Neuauflage der rot-grünen Koalition und den Debatten um die Reformbedürftigkeit der Bundesrepublik in die Welt gesetzt, verweist, vielleicht, auf die Wurzel seiner Wirkung. Baring ist nichts weniger als ein System-Kritiker; er ist vielmehr im tiefsten einverstanden mit der Ordnung dieser Republik. Er vertritt die Unzufriedenheit der im Kern doch Zufriedenen, den Widerspruch zum Zwecke der Bejahung, einen Radikalismus der Mitte. Er vertritt sie mit einem Temperament, in dem sich Spontaneität, Erregbarkeit und Jovialität mischen. Das, nicht zuletzt, macht seinen Erfolg aus. Und seine Rede, deren Strom, immer con brio, ihn oft selbst mitreißt und die Zuhörer mit ihrem sprudelnden Überredungswillen mitnimmt. Immer wieder auch dahin, wo er selbst nicht hinwill: Zu Barings öffentlichem Engagement gehört auch, dass er – wie Wolfgang Schäuble einmal angemerkt hat – seinen Diskussionspartnern leicht macht, ihn misszuverstehen.

Wenn ein Mann von seinem Format fünfundsiebzig Jahre alt wird, stellt sein Leben einen eigenen, eigentümlichen Auszug aus der Geschichte der Epoche dar. Und wer wie Baring an diesem Dienstag, also dem 8. Mai, dem Tag der Kapitulation, Geburtstag hat, der ist für eine wache Zeitgenossenschaft nachgerade prädestiniert. Baring hat diesen Tag übrigens als Tag der Befreiung erlebt und beschrieben: als einen neuen Anfang, als eine neue Geburt.

Sein Leben hat eingelöst, was in dieser Chance steckte. Und man wird auch die passionierte Wendung zur Teilnahme am öffentlichen Wesen, zum Groß-Debattierer und Spezialisten für moralisch-politische Bindegewebsmassage des öffentlichen Bewusstseins, die nach der Wiedervereinigung sein Bild bestimmt haben, dazurechnen.

Der politische Professor, der seine Berufslaufbahn mit einer Stippvisite im Journalismus begann, hat der Zeitgeschichte zumindest zwei Bücher hinterlassen, die noch immer zählen: eine Analyse der Außenpolitik Adenauers und eine Darstellung des „Machtwechsels“ zur sozialliberalen Koalition. Nicht zuletzt war er ein inspirierender Lehrer. Davon zeugen zahlreiche Schüler, seltener in der Wissenschaft, öfter in Journalismus und Verwaltung. Auch das bestätigt den Charme, der Baring auszeichnet. Niemand Geringeres als Gesine Schwan, politisch weit von ihm entfernt, hat einmal gestanden: Man könne sich sehr über ihn ärgern, aber es ist schwer, ihn nicht sehr zu mögen.

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