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Gesundheit: Richard von Weizsäcker: Drei Mal Stunde Null?: Das glückliche Ende deutscher Krisen

"Ich war schon vor mir da, also bin ich." Das ist die Maxime des Menschen, der sich historisch begreift.

"Ich war schon vor mir da, also bin ich." Das ist die Maxime des Menschen, der sich historisch begreift. Dass Richard von Weizsäcker, der den prägnanten Satz zu Beginn seines Buches formuliert, zu dieser Gattung gehört, wird niemanden überraschen. Er hat es während seiner Amtszeit als Bundespräsident in vielen Reden und danach als Memoiren-Schreiber erkennen lassen. Der Alt-Bundespräsident hat überdies den Vorzug eines langen Lebens: Er war auch da, als die entscheidenden Weichenstellungen geschahen, die den Weg der Bundesrepublik bestimmten - und ein gutes Stück früher auch noch. Das wären vorzügliche Voraussetzungen für einen Abriss der Nachkriegsgeschichte. Aber in Wahrheit ist es weniger und mehr, was Weizsäcker mit seinem neuen Buch bietet.

Die drei Daten, mit denen der Essay nach dem Interesse des Lesers greift versteht Weizsäcker als Wendepunkte der deutschen Nachkriegsgeschichte. Doch wirklich trägt die Trias eigentlich nur im Falle von 1989. Schon 1949, bei der Staatsgründung - und dem Beginn der deutschen Teilung - dringt schließlich doch immer das Jahr 1945 als eigentliche Zäsur der deutschen Geschichte durch. Das Jahr 1969, die Halbzeit der alten Bundesrepublik - mit dem Eintritt in den Bundestag, notabene, der Beginn des Politikers Weizsäcker - wird zum Schauplatz von Revisionen.

Die Bedeutung der 68er wird kräftig zurückgestutzt, die sechziger Jahre treten als Periode des Wandels hervor, selbst Ludwig Erhards Pinscher-Verdikt, Parade-Skandalon für alle aufgeklärten Köpfe, findet Weizsäckers Verständnis. Brandts Regierungserklärung von 1969 ist für ihn allerdings noch immer das Fanal, das sie keineswegs war, und sein Satz, die Demokratie sei nicht am Ende, "wir fangen erst richtig an", nennt er, stark übertrieben, ein "unsinnig arrogantes Signal". Als eigentliche Zäsur dieser Jahre, die zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik das Prädikat einer Wende erhielten, bleibt die neue Ost- und Deutschlandpolitik übrig. Sie habe "der ganzen nachfolgenden Geschichte bis zur Wiedervereinigung Deutschlands ihre unauslöschliche Prägung" gegeben.

Ohnedies nehmen sich die drei Daten eher aus wie ein locker geknüpftes Netz, ausgeworfen mit dem Ziel, die Ansichten und Einsichten einzufangen, die Weizsäcker in Bezug auf die Nachkriegs-Geschichte in reichem Masse zur Verfügung stehen. Und in der Tat hat Weizsäckers Buch streckenweise den Charakter einer lockeren, etwas sprunghaften Erzählung, voller einleuchtender Beobachtungen, leider geizend mit persönlichen Eindrücken. Sein bemerkenswertes Gewicht gewinnt der Essay auf dem zweiten Blick. Da treten die Titel-Daten nicht mehr nur als die Halt-Punkte für die Gliederung der Überlegungen des Autors in Erscheinung, sondern als Denk-Punkte für eine anspruchsvolle Interpretation der deutschen Geschichte im vergangenen Halbjahrhundert. Der knappe Durchgang durch diese Geschichte, wird da wirklich zum "Gedankengang" - wie der Autor selbst, etwas untertreibend, seinen Text nennt.

Dann wird das Halbjahrhundert, das die Geschichte der Bundesrepublik umschließt, sichtbar als ein großer Vorgang der Verarbeitung, der Bewältigung, als Auflösung des Rätsels einer Geschichte, die in vielem geirrt und deshalb am Ende in eine beispiellose Katastrophe geführt hat. Die Wiedervereinigung, die wiedergewonnene Nationalstaatlichkeit habe nicht, wie 1871, neue Krisen nach sich gezogen; sie sei, so schreibt Weizsäcker in pointierter Verkürzung, "eine Wiedergründung zur Beilegung langer Krisen" geworden. Und die zwei Eck-Daten, die der Titel des Buches heraufruft, der 8.Mai 1945 und der 9.November 1989, fallen in ihrer Bedeutungsfülle irgendwie zusammen. Sie erfüllen, aus dem historischen Abstand gesehen, tatsächlich den Charakter einer säkularen Zäsur, nämlich "das zusammengehörige Ganze einer Stunde Null": das Ende eines zerstörerischen Herrschaft und den "Aufbruch in eine neue, ersehnte, noch nie erprobte gemeinsame europäische Zukunft". Weizsäcker, der am Schluss seines Buches den Blick bis zum Dreißigjährigen Krieg zurück schweifen lässt, macht klar, mit welchen Zeiträumen dabei zu rechnen ist. So wie das, was "bisher erreicht wurde", nicht "weniger als fünfzig Jahre gedauert" hat, so werden wir Europa "nicht in fünfzig Tagen oder fünfzig Monaten vollbringen, sondern erst in ungefähr fünfzig Jahren".

Aber Weizsäcker dürfte nicht der Politiker und der Teilnehmer an der öffentlichen Debatte sein, der er ist, wenn in dem Netz, das er mit diesem Buch auswirft, nicht auch zahlreiche aktuelle Themen hängen blieben. Manche hat er schon früher kräftig traktiert, beispielsweise die Rolle der Parteien; diesmal ergänzt er sie mit der originellen, fast versöhnliche Deutung, dass sie in unserer sozial diffusen Gesellschaft, immerhin, der Weg zur Bildung einer politischen Klasse ebneten. Und hat er sich nicht auch schon dafür ausgesprochen, dass die ostdeutsche Geschichte, die Geschichte im Raum Ostdeutschlands als Teil der gemeinsamen Geschichte wahrgenommen werden müsstezu? Man kann es nicht oft genug sagen. Dagegen wirft Weizsäcker mit seiner kritischen Erörterung des Elitenwechsel im östlichen Deutschland einen Stein ins Wasser, der noch seine Kreise ziehen wird.

Ausführlich äußert sich Weizsäcker zur Auseinandersetzung um die Verstärkung des plebiszitären Element in der Bundesrepublik, mit Sympathie; im Falle des Bundespräsidenten spricht er sich sogar unzweideutig für eine Direktwahl aus. Aber keine plebizitäre Schwärmerei: Die Debatte sei nur dann gut, wenn es gelingt, das Thema "so differenziert zu diskutieren, wie es die Sache erfordert". Und an anderer Stelle, im Zusammenhang mit einer herben Kritik an den Folgen der Fernsehdemokratie für die öffentlichen Anlegenheiten: "Den Politikern mit einer anspruchsvollen und aufgeweckten Bürgerschaft zu begegnen, ist wichtiger und wirksamer, als ihnen die Verantwortung plebiszitär streitig zu machen."

Aber wie werden wir zu dieser Bürgergesellschaft? Auch Richard von Weizsäcker gibt nicht vor, darauf schlagende Antworten zu wissen. Aber er selbst ist ein Beispiel dafür, dass Antworten möglich sind. Auch mit diesem Buch.

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