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Gesundheit: Schutzengel gesucht

Schlafwandeln ist gefährlich. Wie es entsteht, was dabei im Gehirn passiert und wie es behandelt wird

„Es hätte viel schlimmer kommen können“, sagt der Vater, als er sich an den Sturz seines Sohnes erinnert: „Kurz vorm Abitur schlief Markus bei seiner Freundin – auf einem ausgebauten Dachboden, den vom Treppenhaus nur das Geländer trennte. Als er schlafwandelte, stürzte er eine Etage tiefer.“ Markus fiel fast drei Meter. Und kam wie durch ein Wunder mit ein paar Knochenbrüchen davon. Nicht einmal die Abiprüfungen verpasste er.

Schlafwandler leben gefährlich – und brauchen einen Schutzengel. Denn von „schlafwandlerischer Sicherheit“ kann keine Rede sein. „Ihnen fehlt die Angst und sie bewegen sich unsicherer als Wache“, sagt Dieter Kunz, Leiter der Abteilung für Schlafmedizin im Berliner St. Hedwig-Krankenhaus. Dass Markus in fremder Umgebung stürzt, ist typisch. Schlafwandler sind anfälliger, wenn Bett und Zimmer nicht vertraut sind, da dort kleine, die Attacke auslösende Störungen wahrscheinlicher sind. Markus ist recht alt für einen Schlafwandler: „Mehr als ein Drittel aller Kinder schlafwandeln“, sagt Kunz. Mit dem Erwachsenwerden verschwinde der Spuk fast immer. Von den Über-30-Jährigen ist nur ein Prozent betroffen. „Schlafwandeln ist exakt, was es heißt: Wandeln im Schlaf, also das gelegentliche Aufstehen und Umhergehen bei abgeschaltetem Wachbewusstsein“, sagt Claudio Bassetti, Schlaflaborleiter an der Neurologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich.

Nur ganz selten tritt das Schlafwandeln erstmals im Erwachsenenalter auf. Dann sollte man rasch zum Arzt gehen und muss meist eine Nacht im Schlaflabor verbringen. Die Suche nach dem Auslöser beginnt: „Schlafwandeln ist nur ein Symptom, so wie Kopfschmerzen. Es zeigt uns, dass etwas im Gehirn nicht in Ordnung ist“, erklärt Bassetti. Deshalb sind die Attacken bei Kindern so häufig. Ihr Gehirn entwickelt sich noch. So kann das Bewusstsein ausgeschaltet bleiben obwohl Gehirnregionen aufwachen, die Bewegungen steuern. Nun erheben sich Schlafwandler mit starrem Blick, gehen umher, öffnen Türen und Fenster, setzen sich im Extremfall an den Schreibtisch und schalten den Computer an, oder steigen ins Auto, mit dem sie jedoch höchstens bis zur nächsten Mauer kommen. Ihre Arme strecken sie übrigens nicht nach vorne. „Das ist Quatsch“, sagt Bassetti. Auch Lichter steuerten sie nicht an. Es könne aber sein, dass ein heller Mond das Wandeln begünstigt, weil sein Schein den Schlaf insgesamt etwas beeinträchtige.

Springt das Appetitzentrum im Gehirn an, beißen Betroffene schon mal in eine verpackte Tafel Schokolade. „Somnophagie“, Schlafhunger, nennen das Experten. Werden stattdessen Angstzentren aktiv, ereilt die Schläfer der Nachtschreck, „Pavor Nocturnus“. Sie setzen sich auf und schreien panikartig. Auch solche Störungen sind bei Kindern häufig und verschwinden meist mit der Pubertät. Ebenso wie Schlafwandler können sich Betroffene am nächsten Morgen an nichts erinnern. Träume kommen als Auslöser nicht infrage, weiß Bassetti: „Schlafwandeln findet im Tiefschlaf statt, und da träumt man nur sehr bruchstückhaft.“ Weil wir fast nur im ersten Schlafdrittel in den Tiefschlaf gelangen, wandelt man auch nur dann. Wer spät in der Nacht herumgeistert, leidet eher an einer REM-Schlaf- Verhaltensstörung. Diese Menschen können leicht geweckt werden und erinnern sich später recht gut an das Geschehene, das ihnen wie geträumt vorkommt. Sie leben Träume aus, so dass es auch viel häufiger als beim Schlafwandeln zu absurden Handlungen oder aggressiven und sexuellen Übergriffen kommt.

Immer öfter berufen sich Beschuldigte vor Gericht darauf, ihre Straftat im Schlaf begangen zu haben. Ein Dilemma für viele Richter und eine knifflige Aufgabe für die Schlafmediziner, die per Gutachten klären müssen, ob die Beschuldigten tatsächlich eine Schlafstörung haben. Dabei achten sie vor allem auf das Hirnstrommuster. „Wenn Schlafwandeln im Alter neu auftritt, passiert etwas im Gehirn, und zwar nicht einfach so“, sagt Schlafforscher Kunz. Ursache können Medikamente oder illegale Drogen sein. Schlafmangel, übermäßiger Alkoholkonsum oder -entzug begünstigten das Phänomen. Manchmal sei es sogar ein Hinweis auf Erkrankungen wie Epilepsie, Parkinson oder einen Hirntumor. Zunächst bekämpfen Mediziner solche Grunderkrankungen. Ansonsten können Medikamente helfen, und gezielter Stressabbau wie Autogenes Training sowie allgemeine Schlafhygieneregeln wie das Meiden abendlichen Koffeinkonsums und das Achten auf regelmäßige Schlafzeiten.

Am wichtigsten sind aber Sicherheitsmaßnahmen: „Türen und Fenster geschlossen halten, Stolperfallen und gefährliche Gegenstände entfernen“, rät Dieter Kunz. Und wenn das nicht reicht? „Ultima ratio ist das Festschnallen oder Einbringen von Lichtschranken, die Angehörige im Nachbarzimmer wecken.“ Die sollen den Schlafwandler dann sanft und ruhig ins Bett geleiten, ihn jedoch niemals rütteln oder anschreien. Wecken lässt er sich ohnehin kaum. Stattdessen kann er unbewusst aggressiv werden.

Der Zürcher Bassetti warnt davor, das Schlafwandeln auf die leichte Schulter zu nehmen. „Allein hier in der Schweiz gibt es jährlich Todesfälle.“ Besondere Gefahr drohe, wenn Betroffene auf Berghütten übernachteten. „Wer schlafwandelt, gilt hierzulande als militärdienstunfähig.“ Solange die Existenz von Schutzengeln also noch nicht eindeutig bewiesen ist, müssen Angehörige weiter vorbeugen.

Der Autor Peter Spork hat „Das Schlafbuch. Warum wir schlafen und wie es uns am besten gelingt“ geschrieben, Rowohlt 2007, 320 Seiten, 9,90 Euro.

www.dgsm.de

www.schlafmedizin-berlin.de

Peter Spork

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