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Gesundheit: Studieren in Aix-en-Provence: Warum kann Aix nicht wie Berlin sein? - Auf den Spuren eines deutschen Nörglers

Wäre Dirk ehrlich, dann würde er zugeben, dass er sich die Provence nicht aus Studiengründen zum einjährigen Wohnort gewählt hat. Aber wer Chancen bei seiner Bewerbung um ein einjähriges Erasmus-Stipendium haben will, muss ein konkretes Lernziel finden, dass ihn dazu zwingt, ausgerechnet hier studieren zu müssen.

Wäre Dirk ehrlich, dann würde er zugeben, dass er sich die Provence nicht aus Studiengründen zum einjährigen Wohnort gewählt hat. Aber wer Chancen bei seiner Bewerbung um ein einjähriges Erasmus-Stipendium haben will, muss ein konkretes Lernziel finden, dass ihn dazu zwingt, ausgerechnet hier studieren zu müssen. So ein "konkretes Ziel" könnte es sein, provenzalischsprachige Literatur zu studieren oder einen besonderen Professor zu suchen. Für Dirk, der in Deutschland Geschichte und Linguistik studiert, und die meisten seiner ausländischen Kommilitonen in Aix sind die Umgebung, das Klima und die Hoffnung, hier die Französischkenntnisse zu verbessern der eigentliche Grund, nach Aix zu kommen. Das ist wohl auch gut so. Denn fachlich, so beklagen Deutsche immer wieder, ist hier nicht wirklich etwas zu holen. Auch Dirk ist vom Aixer Unialltag eher negativ überrascht und befremdet.

So ist er schon durch mehrere Klausuren gefallen, weil die Dozenten sich um seine Sprachschwierigkeiten nicht scherten. "Die Profs haben einfach kein didaktisches Geschick und werden dafür auch nicht ausgebildet. Außerdem sitzt du im Seminarraum mit einem Haufen Kinder", ärgert er sich.

Mitschreiber statt Genies

Doch dass er sich in den Vorlesungen unter den einheimischen Kommilitonen nicht recht wohlfühlen konnte, hat Dirk nur anfangs mit dem Altersunterschied erklärt: "Du merkst schnell, dass da keine jungen Genies um dich herum sitzen, sondern nur eifrige Mitschreiber. Die denken nur an die nächste Klausur, aber ansonsten lassen sie die Uni Uni sein."

Im französischen Hochschulsystem gibt es in der Regel keinen Numerus clausus. Vielmehr wird während des Studiums gesiebt. Also geht der Schul-Alltag beinahe nahtlos in den Uni-Alltag über. Das bedeutet vor allem Mitschreiben, Zuhören und nochmals Mitschreiben. Wer die ersten zwei Jahre bewältigt, steigt in eine höhere Liga auf. Doch die Durchfallquoten sind sehr hoch. Erst jetzt beginnt, für zwei weitere Jahre, ein selbstständigeres Arbeiten, sind Zwischenfragen nicht mehr so verpönt und Gespräche in kleineren Seminaren möglich.

Dennoch kommen die Franzosen den deutschen Gästen auch später noch wenig eigenständig vor. "Was irgendwo gedruckt steht oder vom Lehrer kommt, wird gemacht", sagt Dirk verständnislos. "Wenn es irgendwo verordnet wird, lassen die sich auch auf dem Klo prüfen, selbst wenn nebenan drei Räume frei sind." Einer wie Dirk bringt mit dem universitären Geist etwas anderes in Verbindung: "Bei uns erzählen sie dir wenigstens, die Uni sei was Besonderes, Mitsprache, selbstständiges Denken und so. Hier zeigen dir die Dozenten ganz offen, dass sie dich für blöd halten."

Für besonders schwere Fälle hat Dirk inzwischen vorgesorgt: Die Seminar-Unterlagen, aus denen die Dozenten mitunter sogar wörtlich vorlesen, kann man sich - nicht gern gesehen, aber in der Praxis doch geduldet - gegen nicht unerhebliches Entgelt besorgen. Auch wenn Dirk aus dieser Einrichtung praktischen Nutzen zieht, hält er sie eigentlich für einen Beweis für Engstirnigkeit des Lernens.

So groß aber die Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden ist, so wenig lässt sich offenbar die Schuld daran auf einer Seite festmachen, glaubt er. Hierarchische Schranken scheinen im System verankert. Kollektiver Protest könne sich angesichts realer Konkurrenz schwer entfalten: Da nach jedem Semester Prüfungen über den Verbleib an der Uni entscheiden und kaum Austausch zwischen den Jahrgangsstufen stattfindet, ist der Lerndruck auf den Einzelnen hoch und der Drang, sich mit dem System zu beschäftigen, gering. "Wir haben uns einfach daran gewöhnt", meint eine Französin aus Dirks Geschichtskurs "Bauern in der großen Revolution". Die beiden warten morgens ab neun Uhr mit etwa dreißig weiteren Studenten auf ihren mündlichen Prüfungstermin. Kaum öffnet sich die Tür und ein Sekretär erscheint, da erhebt sich ein Wirrwarr an Zurufen: Wer am lautesten schreit, bekommt die gewünschte Prüfungszeit. "Da musst du dich durchboxen", sagt Dirk, und die Französin sagt, die Uni sei eben gemein.

Dass alles gar nicht so deprimierend zugehen muss, hat Dirk dann schließlich doch noch festgestellt, als er sich einmal mit ein paar Freunden ein Herz fasste und auch ein paar Dozenten zu einer Party der Austauschstudenten von Aix-Marseille einlud, die tatsächlich kamen. "Ansonsten undenkbar, mit dem Prof außerhalb des Seminars an einem Tisch zu sitzen", glaubt Dirk und meint, man müsse den Franzosen eben nur "den richtigen Kick" geben.

Seit kurzem will man sich in Aix offenbar gegenüber Kritik und Anregungen von Seiten der Studenten ein wenig öffnen: Jeweils zu Semesterbeginn werden überall weiße Papiertafeln aufgehängt. Überschrift: "Was ihr schon immer mal über die Uni sagen wolltet ..."

Max Oppel

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