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Gesundheit: Tony Blairs Englischstunde

Ein Zwang, der Wirkung zeigt: An den Schulen in Großbritannien ist die tägliche „literacy hour“ Pflicht

15 Minuten Gruppenarbeit. „Alle Augen zu mir bitte", ruft Jacquie Phelan und schnipst mit den Fingern. Schon am Tonfall merken die 24 Neunjährigen, die im Schneidersitz auf dem hundertjährigen Dielenboden der Carlton Primary School in Londons Stadtteil Camden sitzen, dass sie es hier mit einer Autorität zu tun haben. Die „Literacy Hour“ beginnt. Für englische Grundschüler seit 1997 Routine. Auch die meisten Lehrer haben sich daran gewöhnt. „Am Anfang war der Widerstand bei uns Lehrern groß“, sagt Jacquie, eine energische Dublinerin, „aber die Erfolge sprechen für sich.“

Erfolge, die bitter nötig waren. 1997, als Tony Blair mit dem Kampfruf „Education, Education, Edcuation“ die Wahl gewann, erreichten nur 57 Prozent der englischen 11-Jährigen den Lesestandard ihrer Altersstufe. Zu viele Engländer, befand Labour, konnten nicht richtig rechnen, lesen und schreiben. So wurde den Schulen, nach Jahren des pädagogischen Laissez faire, ein strenges Reglement oktroyiert: Eine Schulstunde täglich musste für Rechnen, eine Stunde täglich für Lesen und Schreiben abgezweigt werden. Strenge Regeln schreiben vor, was in diesen Stunden zu geschehen hat und welche Lernerfolge erzielt werden sollen. „Wir haben die Schulen in eine Zwangsjacke gesteckt", sagt Kevan Collins, Fachberater des britischen Bildungsministeriums für die Lesestrategie.

In England, wo die Schulen in der Verantwortung der Kommunen liegen und zentrale Lehrpläne erst in den neunziger Jahren unter den Konservativen eingeführt wurden, war „Tony Blairs Englischstunde“ eine Kulturevolution. Ganze Schülergenerationen waren ohne richtige Rechen- und Lesebücher, ohne Lehrpläne, ohne Prüfungen und ohne ein pädagogisches Rahmensystem durch die Grundschulen gegangen. Sie durften im Chor Worte an der Tafel nachsagen und erhielten dann ein Büchlein, in dem sie sich selbst zurechtfinden mussten. Labour ließ sich die Lesekampagne seit 1997 jährlich zusätzliche 60 Millionen Pfund kosten und steigerte damit den Lesestandard auf 80 Prozent – den Gesamt Literacy Standard auf 75 Prozent. „Es war eine Menge Arbeit, hat eine Menge Geld gekostet und die Lehrer wurden wirklich hart herangenommen“, so Schulrat Kevan Collins.

Jacquie sitzt neben einem großen Flipchart, auf das sie vier Sätze einer Geschichte aufgeschrieben hat. „Die Schulleiterin und der Vampir“ lautet die Überschrift. „Was machen wir heute?“, ruft sie und hilft den Kleinen mit dem ersten Buchstaben auf die Sprünge. „E-E-?“ Viele Hände schnellen hoch und der kleine Mohammed weiß die Antwort: „Editing“. Denn die Geschichte enthält einige Fehler, die die Kinder nun herausfinden, beschreiben und verbessern müssen. Kevan Collins nennt das: „Lesen lernen durch das Auge eines Schreibers.“

Der Wochenplan, den Jacquie ihrer Rektorin vorlegen muss, spiegelt die Vorgaben des Ministeriums wider: 15 Minuten gemeinsame Wort- und Satzarbeit, 15 Minuten Gelesenes in Schreiben umsetzen, 15 Minuten gelenktes Lesen und Schreiben, dann unabhängige Aufgaben. Zu Einzelaktivitäten auf dem Plan gehört zum Beispiel, Wörter durch interessantere Wörter zu ersetzen oder Elemente zu identifizieren, die zeigen, dass die gelesene Geschichte eine Horrorgeschichte ist.

Während Jacquie Phelan mit den 24 Schülern arbeitet, sitzt in einem Nebenzimmer ein Assistenzlehrer und bringt einem siebenjährigen Kurden das Lesen bei, der erst sechs Wochen im Land ist. 12 Prozent aller englischen Schulkinder sprechen Englisch nur als Zweitsprache. In der Carlton School liegt der Anteil mindestens bei einem Drittel. Trotzdem erzielt die Schule Ergebnisse, die dem nationalen Standard entsprechen. „Man muss so früh wie möglich eingreifen, dabei müssen Lehrer und Eltern zusammenarbeiten“, sagt Kevan Collins. Für solchen Förderunterricht werden im Jahr für alle Altersstufen 200 Millionen Pfund ausgegeben.

„Was wir getan haben, ist nicht gerade Raketenwissenschaft. Wir haben nur die Zeit an den Schulen durch die ,literacy hour’ neu organisiert, wir haben die Erwartungen drastisch erhöht und wir geben den Lehrern und Schulen die Unterstützung und Fortbildung, die sie brauchen.“ Spezielle Lehrmethoden seien nicht wichtig. Was man braucht, seien viele spannende Bücher und nicht nur ein einzelnes Leseschema. „Am wichtigsten ist es, das Lesen sozial zu gestalten und viel darüber zu reden, was man liest.“

Nichts von alledem ist verpflichtend. Aber Geld vom Ministerium gibt es nur für die Schulen, die mitspielen. Und für alle verbindlich ist das drakonische Prüfungs- und Testsystem, mit dem die Regierung ihre Erwartungen durchsetzt. Mit sieben und mit elf Jahren müssen englische Grundschüler schon landesweite Lese- und Schreibexamina absitzen.

Nur wenige bestreiten die Erfolge, doch es fehlt nicht an Kritikern des autoritären Zentralismus, der die nationale Lesestrategie antreibt. Vor kurzem hat die englische Lehrergewerkschaft NUT bei ihrem Jahreskongress in Harrogate einen Boykott der Prüfungen für die Siebenjährigen beschlossen. Der Schatten-Erziehungsminister will die völlige Abschaffung der nationalen Standardvorgaben, weil die Überflutung der Klassenzimmer mit Bürokratie der Erziehung der Kinder schade. Collins hört solche Klagen mit Verständnis an. Der nächste Schritt sei, die Literacy Strategie in einen „ganzheitlichen“ Lehrplan zu integrieren. Aber erst einmal habe man die Einstellung von Lehrern und Schulen ändern müssen. „Man geht durch eine Periode der Herausforderungen und Kontroversen, wenn man eingefahrene Strukturen und alte Besitzstände angreift. Wenn man dann am Ziel angekommen ist, eignen sich die Betroffenen das Erreichte an und entwickeln es weiter. Das ist nun die Herausforderung.“

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