zum Hauptinhalt

Gesundheit: Trauma: Die Psyche leidet ein Leben lang

Die Bilder aus Manhattan erschüttern auch erfahrene Psychologen: "Diese Katastrophe dürfte das Vertrauen der Amerikaner in ihre Sicherheit untergraben wie nichts zuvor", mutmaßt Werner Wilk, Psychotherapeut aus Bielefeld. Er hat Trauma-Patienten aus dem ICE-Unglück in Eschede betreut, half verstörten Bankangestellten nach Überfällen und berät Firmen, deren Mitarbeiter Opfer von Geiselnahmen wurden.

Die Bilder aus Manhattan erschüttern auch erfahrene Psychologen: "Diese Katastrophe dürfte das Vertrauen der Amerikaner in ihre Sicherheit untergraben wie nichts zuvor", mutmaßt Werner Wilk, Psychotherapeut aus Bielefeld. Er hat Trauma-Patienten aus dem ICE-Unglück in Eschede betreut, half verstörten Bankangestellten nach Überfällen und berät Firmen, deren Mitarbeiter Opfer von Geiselnahmen wurden. "Das menschliche Grundbedürfnis nach Geborgenheit ist zutiefst verletzt." Die Angst geht um. In die Seelen der Verschütteten, Verletzten, der Helfer und ihrer Verwandten haben sich die Erlebnisse unauslöschlich eingebrannt. "Jeder, der so etwas mitgemacht hat, wird nicht mehr derselbe sein", meint Wilk. "Die Psyche bleibt zeitlebens eingeschränkt."

Zum Thema Online Spezial: Terror gegen Amerika Fotostrecke I: Der Anschlag auf das WTC und das Pentagon Fotostrecke II: Reaktionen auf die Attentate Chronologie: Die Anschlagserie gegen die USA Reaktionen: Weltweites Entsetzen Osama bin Laden: Amerikas Staatsfeind Nummer 1 gilt als der Hauptverdächtige Werner Wilk sucht keinen Vergleich mit anderen Attentaten oder mit Flugzeugabstürzen. Er stellt die psychologischen Schäden für die Menschen in New York und Washington in eine direkte Linie zum verheerendsten Krieg der amerikanischen Geschichte. "Die Ereignisse sind nur mit dem Vietnam-Krieg vergleichbar", erläutert er. "Damals kannte man die psychologischen Spätfolgen von Terror dieses Ausmaßes noch nicht. Man wusste noch nicht, warum die Veteranen Jahre später dem Alkohol verfielen, kriminell wurden oder Drogen nahmen."

Vor allem der psychologischen Forschung an den Vietnam-Heimkehrern ist es zu verdanken, dass die so genannte Posttraumatische Belastungsstörung als psychologisches Krankheitsbild bekannt wurde. Ihre Symptome sind Angstzustände, Alpträume im Wachzustand, Unruhe, Depressionen, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Panikattacken, chronische Schmerzen und Suchtkrankheiten. Oft erscheint den Geschädigten nur der Selbstmord als Ausweg. "Die Hilflosigkeit der Patienten, die sie in den Augenblicken der Katastrophe erleben, manifestiert sich in Flucht und sozialem Rückzug", beschreibt Werner Wilk. "Je früher diese Menschen Hilfe erhalten, desto größer sind die Chancen, ohne Trauma darüber hinweg zu kommen."

Herkömmliche Behandlungen, beispielsweise die Prophylaxe gegen Schock, helfen dabei wenig. "Man muss schon spezielle Kenntnis über Traumaopfer haben, um richtig zu behandeln", sagt Christian Lüdke vom Deutschen Institut für Psychotraumatologie in Köln. Er leitet dort die Abteilung für Notfallpsychologie und Akutintervention. Für die Soforthilfe der Verletzten, der Geborgenen und der von schweren Verlusten gezeichneten Rettungstrupps in Süd-Manhattan können jedoch angesichts des Ausmaßes der Katastrophe nicht genug Spezialisten bereit stehen, von der Betreuung der Angehörigen der unzähligen Toten und Vermissten ganz zu schweigen. "Aus den Erfahrungen des Vietnam-Krieges gibt es in den USA aber ein großes Heer psychologisch ausgebildeter Helfer", weiß Werner Wilk. "In Deutschland haben wir die Ärzte, die Psychotherapeuten und die Notfallseelsorger, aber keine Erste psychologische Hilfe, etwa vergleichbar der Ersten medizinischen Hilfe. Da sind uns die Amerikaner voraus."

Wie wichtig die Erste Hilfe ist, beweist ein jüngstes Beispiel aus Frankreich: Als die Concorde im vergangenen Jahr bei Paris abstürzte, zog die Fluggesellschaft Air France aus ganz Europa freiwillige Hilfskräfte zusammen, um den Angehörigen dieses Unglücks vor allem eines zu bieten: Anteilnahme und ein offenes Ohr. "Oft reicht schon die Fähigkeit, den Betroffenen zu fragen, was er braucht, bevor man ihm irgendwelche Hilfe angedeihen lässt", nennt Werner Wilk erste Maßnahmen. "Man muss zuhören, ohne gleich kluge Ratschläge zu geben. Und die Ersthelfer müssen wissen, wo die Opfer professionelle Hilfe finden."

Wie sein Bielefelder Kollege rät auch Christian Lüdke zu schnellem Handeln: "Erst kommt die Schockphase, dann die Schlaflosigkeit. Die Opfer haben schlimme Träume." Anschließend dreht sich die teufliche Spirale aus Angst, Depression und den endlosen Selbstvorwürfen. Eine besonders schwierige Gruppe sind die Kinder, die wohl niemals über das Erlebte hinweg kommen werden. Bei ihnen versuchen es die Experten oftmals mit Rollenspielen, damit sie das traumatische Erlebnis verarbeiten, sich davon distanzieren und es in der Vergangenheit zurückzulassen.

Doch die Aussichten sind gering. Arif Verimli, Mediziner an einer Nervenklinik in Istanbul, machte unzählige Erfahrungen mit Traumapatienten nach dem großen Erdbeben in der Türkei vor zwei Jahren. "Kein Mensch, der eine solche Katastrophe durchlebt hat, wird sie bis an sein Lebensende verwinden", sagt er. Der Psychologe Ramazan Ari von der Selcuk-Universität in Konya bestätigt: "Das Leben wird für diese Menschen nie wieder so sein wie zuvor."

Zudem löste die Ankündigung der US-Regierung, Vergeltung zu üben, unterschiedliche Reaktionen aus. "Sie wird zum einen als das Versprechen wahrgenommen, die Täter unschädlich zu machen und die Gefahr zu mindern", sagte der in Lüneburg praktizierende Therapeut Michael Hase, der unter anderem Verbrechensopfer behandelt. Andere wiederum empfänden sie als Eskalation, die auch in Europa unabsehbare Gefahren mit sich bringe. Auch Werner Wilk warnte vor aktionistischen Schuldzuweisungen, die schnell in Fremdenhass umschlagen könnten: "Dann haben wir noch ein Problem." Er forderte, nicht nur die Schuldigen des Attentats zu suchen, sondern auch über das Versagen verschiedener Behörden zu sprechen: "Amerika kann den Krieg der Sterne führen, aber schafft es nicht, einen Konflikt auf der Erde zu entschärfen." Deshalb müsse die Konfliktforschung deutlich angekurbelt werden, geeignete Lösungsmethoden müssen her. "Wenn man ähnliche Etats wie für die Aids-Forschung aufbringen würde, hätten wir in drei bis vier Jahren greifbare Ergebnisse."

Heiko Schwarzburger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false