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Gesundheit: Treffpunkt Tagesspiegel: Die Folgen der Folgenlosigkeit

Scheinbar Selbstverständliches bringen wir oft auf einen kurzen Nenner. Auch "die Pille" gehört dazu.

Scheinbar Selbstverständliches bringen wir oft auf einen kurzen Nenner. Auch "die Pille" gehört dazu. Trotzdem kann es schwer sein, über Selbstverständliches zu reden. Es fehlt die Distanz. Gut deshalb, dass Moderator Justin Westhoff den Treffpunkt Tagesspiegel Medizin & Fitness über die Pille mit einem Zitat aus dem Jahre 1925 eröffnete: "Könnte ich Ihnen all die schrecklichen Dinge erzählen, die ich mit meinen Geburten und Kindern durchgemacht habe. Sie würden wissen, warum ich lieber sterben möchte, als noch eines zu haben." Diesen Hilferuf sandte eine 30-Jährige, seit 14 Jahren verheiratet und Mutter von elf Kindern, an die amerikanische Krankenschwester Margaret Sanger, die bald darauf eine der treibenden Kräfte für die Entwicklung eines neuen Verhütungsmittels wurde. Man sollte es, so ihr Wunsch, "schlucken können wie Aspirin".

Heute, vierzig Jahre nach der Einführung eines solchen Mittels auf dem europäischen Markt, haben 90 Prozent der 25jährigen Studentinnen Erfahrungen mit der Pille, wie der Leipziger Sexualwissenschaftler Kurt Starke berichtete. Die hormonellen Verhütungsmittel sind weit niedriger dosiert als in den Anfängen, sie schützen ausgesprochen sicher und sind bequem anzuwenden. Hat die Anti-Baby-Pille eine Veränderung in das Verhältnis der Frauen zu ihrem Körper gebracht? Martina Dören, Leiterin des klinischen Forschungszentrums Frauengesundheit am Universitätsklinikum Benjamin Franklin, findet es schon heute schwer, auf diese Frage zu antworten: "Ich bin Ende der 50er Jahre geboren und damit ja gewissermaßen schon mit der Pille groß geworden."

In der Einstellung der Frauen zur hormonellen Empfängnisverhütung gebe es zudem deutliche Unterschiede: "Viele Frauen haben keine Probleme, bei anderen zeigen sich Widerstände und Ängste." Eines hat sich aber nicht zuletzt durch die Pille verändert: Verhütung ist zu einer festen Größe im Liebesleben geworden. "Sichere Verhütung wird heute von den meisten Frauen bis zum 50. Lebensjahr betrieben", so die niedergelassene Frauenärztin Monika Weber.

Horst Lübbert, Gynäkologe und Hormonspezialist am Klinikum Benjamin Franklin, hat aus medizinischer Sicht nichts dagegen, wenn Frauen, die nicht rauchen, keinen erhöhten Blutdruck und auch keine besondere Gefährdung für Thrombosen (Blutgerinnsel) haben, dafür während ihrer gesamten fruchtbaren Lebensspanne die Pille benutzen. Vor einigen Krankheiten wie Krebs der Eierstöcke oder des Gebärmutterkörpers, Entzündungen der Eileiter oder Endometriose, bei der Schleimhaut der Gebärmutter im Bauchraum versprengt wird, bietet sie sogar einen gewissen Schutz. Das Risiko für Brustkrebs ist allerdings nach langjähriger Einnahme leicht erhöht.

Doch zurück zu den Anfängen: Da hapert es auch in unseren aufgeklärten Zeiten oft noch an Kenntnissen über die Verhütung. "Jugendliche werden mit Informationen überschüttet, aber dass sie deshalb über alles Bescheid wüssten, ist eine Illusion", hat Starke beobachtet. Und die gelernte Psychotherapeutin Margit Tetz, besser bekannt als "Dr. Sommer" von "Bravo-TV" , erläutert dort ihren jungen Zuschauern sicherheitshalber, dass eine einzelne Pille nicht genügt, um sich in Sicherheit zu wiegen. "Viele Jugendliche schludern auch nach dem ersten Jahr und nehmen sie nicht mehr jeden Tag."

Der kostenlose und anonyme Beratungsservice wird offensichtlich gerne angenommen: Etwa 120 Briefe und e-mails gehen täglich bei "Dr. Sommer" ein. "Jugendliche gehen mit den Fragen, die ihnen auf den Nägeln brennen, nicht zu den Eltern", sagt Margit Tetz. Einerseits mag das mit deren Überbesorgtheit zusammenhängen, die Frauenärztin Weber immer wieder feststellt. Da fragen Mütter vor der Fahrt ihrer 13jährigen Töchter ins Ferienlager bei ihr an, ob denn nicht sicherheitshalber die Pille mit in den Rucksack solle.

Die Zurückhaltung der Jugendlichen hat aber nicht zuletzt mit der neuen Erfahrung zu tun. "Aufkommende Sexualität", gab ein Sexualpädagoge aus dem Publikum zu bedenken, "hat mit Erwachsenwerden zu tun und wird deshalb den Eltern nicht gezeigt." Dass die Jugendlichen dabei selbst Verantwortung übernehmen, zeigt sich in der Wahl der Verhütungsmittel. Die meisten Jugendlichen sind sich der Gefahr einer HIV-Infektion bewusst und nehmen beim ersten Geschlechtsverkehr Kondome.

"Schon beim ersten Mal wird oft doppelt verhütet, mit Pille und Kondom", berichtete Starke. Der Sexualforscher gab sogar vorsichtig zu bedenken, ob die Verantwortung nicht heute von Eltern und Medien allzu sehr betont werde: "Man sollte auch darüber reden, wie man Kinder kriegt."

Ist Kinderglück in den Zeiten der Pille, aber auch von Aids zu wenig das Thema? Mit 15 sieht die Sache anders aus als mit 35. Da empfiehlt Monika Weber ihren Patientinnen, die sich in absehbarer Zeit ein Kind wünschen, manchmal den Umstieg auf eine natürliche Methode der Empfängnisverhütung wie die modernen Varianten der Temperaturmess-Methode zur Ermittlung des Eisprungs, die zwar nicht so sicher sind, aber ein Gefühl für den Körper vermitteln.

Und die Männer? Viele Mädchen empfinden es als Belastung, dass sie es sind, die die Pille nehmen müssen, viele Jungen fühlen sich dadurch aber auch entmündigt, sagte der Sexualwissenschaftler Starke. Doch die Antibabypille oder -spritze für den Mann ist trotz jahrelanger Forschung immer noch nicht auf dem Markt. 70 Prozent der Männer würden sie dabei nehmen, wie eine weltweite Befragung ergab, über die Ursula Habenicht berichtete, die bei der Firma Schering die Abteilung Fertilitätskontrolle und Hormontherapie leitet.

Die Ära der Pille könnte aber in absehbarer Zeit auch zu Ende gehen. Inzwischen konzentriert sich, wie Ursula Habenicht berichtete, die Forschung schon auf Mittel, die ganz neue Bequemlichkeit versprechen: Sie müssen nur eingenommen werden, wenn man sie braucht. Wie Aspirin?

Adelheid Müller-Lissner

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