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Gesundheit: TU-Forscher wollen den Ursprung von Gesten zu ergründen

Wenn der Fußballspieler Stefan Effenberg den Zuschauern seinen Mittelfinger entgegenstreckt, bedient er sich einer alten Geste. Der "Stinkefinger" ist schon in der Antike verwendet worden, auch in der Literatur lässt sich dieser Akt des "Sprechens" nachweisen und bis auf die Anfänge zurückverfolgen, erklärt Reinhard Krüger von der Arbeitsstelle für Semiotik der Technischen Universität Berlin.

Wenn der Fußballspieler Stefan Effenberg den Zuschauern seinen Mittelfinger entgegenstreckt, bedient er sich einer alten Geste. Der "Stinkefinger" ist schon in der Antike verwendet worden, auch in der Literatur lässt sich dieser Akt des "Sprechens" nachweisen und bis auf die Anfänge zurückverfolgen, erklärt Reinhard Krüger von der Arbeitsstelle für Semiotik der Technischen Universität Berlin. Die Hand ist wichtig für die Kommunikation. "Es ist kein Zufall, dass das Zentrum, das die Bewegung der Hände steuert, im Gehirn genau neben dem Sprachzentrum liegt" sagt Krüger. Nicht ganz so alt ist die "Handy-Geste", die zum Ausdruck bringen will, dass man sein Gegenüber anrufen wird: der gestreckte Daumen in Ohrnähe, der gestreckte kleine Finger in Mundnähe, die drei restlichen Finger gebeugt. Es gab sie schon vor der Erfindung des Mobiltelefons, sagt Krüger, "doch wir wissen nicht, wann genau die Handygeste erstmals auftrat. Bislang existiert leider noch keine Etymologie der Gesten."

Den Ursprung von Gesten zu ergründen, ist eine der Aufgaben, die sich die TU-Forscher gestellt haben. "Die besondere Schwierigkeit liegt darin, dass körpersprachliche Zeichen keine Spuren hinterlassen", meint Krüger. Deshalb sei man auf Fotos und Filme angewiesen, die auf Gesten hin ausgewertet werden. Man bewege sich jedoch bei dieser Art von Forschung, die darin besteht, "moderne Phänomene in historischer Perspektive zu rekonstruieren", auf einem schmalen Grat zwischen plausiblen Erklärungen und blanker Spekulation.

Damit beschäftigen sich zwei internationale Semiotik-Kongresse, die in Kürze in Dresden abgehalten werden. Vom 3. bis 6. Oktober findet in der dortigen Technischen Universität der neunte Internationale Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) unter dem Motto "Maschinen und Geschichte" statt. Vom 6. bis 11. Oktober, tagt an gleicher Stelle die International Association for Semiotic Studies, um über "Zeichenprozesse in komplexen Systemen" nachzudenken (Informationen unter 0351/463 4381). Die Arbeitsstelle für Semiotik der TU Berlin ist an der Vorbereitung beider Kongresse beteiligt. Reinhard Posner, Gründer und Leiter der Arbeitsstelle, hofft, dass dadurch die Semiotik in Deutschland einen Schub erhält. Schließlich spielt Deutschland in der semiotischen Forschung im Vergleich zu den romanischen und lateinamerikanischen Ländern eine eher bescheidene Rolle. Dabei ist die Welt voller Zeichen. Und damit auch die Kunst, die Musik und Literatur, das Recht und die Religion. Geistes- und Sozialwissenschaften thematisieren diese Zeichen zumeist unabhängig voneinander und übersehen daher ihre Gemeinsamkeiten. Indem die Semiotik die menschliche Kultur unter dem Gesichtspunkt der Zeichenhaftigkeit betrachtet, verfolgt sie einen disziplinübergreifenden Ansatz, begreift die verschiedenen Zeichentypen als einheitliches Phänomen.

In welchen Zeichen-Beziehungen komplexe Systeme zueinander stehen, wird in Dresden diskutiert. Roland Posner hat dafür zusammen mit dem Informatiker Bernd Mahr die Sektion "Komplexitätsbewältigung in Maschinensprachen und in Menschensprachen" organisiert. Maschinen seien, so Posner, "immer semiotischer geworden". Im 19. Jahrhundert sei eine Differenzierung in Dampf-, Kraft-, Elektrizitäts- und Wärmemaschinen zu beobachten gewesen. In diesem Jahrhundert sei es stets um die Frage gegangen, "ob Maschinen intern Zeichenprozesse ablaufen lassen können". Die Internet-Suchmaschine im Computer, die aus Mengen von Zeichen besteht und Mengen von Zeichen verwaltet, sei ein Beispiel für die "Semiotisierung der Maschine".

Überaus schwierig ist die Sprache. "Sie ist so komplex, dass bislang keine Sprache vollkommen von der Wissenschaft erfasst werden kann", sagt Posner. Er sucht nach Antworten auf die Frage, "wie das System der Arbeitsteilung etwa zwischen verbalen und körpersprachlichen Zeichen organisiert ist und was wir für die Maschinensprachen von den natürlichen Sprachen lernen können". Eine menschliche Sprache hat zwischen 25 bis 30 Buchstaben zur Verfügung. Daraus werden auf der nächst höheren Stufe 1000 bis 5000 Silben. Und aus denen können schließlich, je nach Sprache, zwischen 100 000 und 500 000 Wörter gebildet werden. Der Aufwand des Lernens auf der "ersten Stufe" ist sehr gering. Doch in der Anwendung führt dies zu langen Texten.

Ganz anders das chinesische Schriftsystem, bei dem ein ganzes Wort oder ein Begriff in einem Zeichen notiert wird. "Um einen wissenschaftlichen Text zu erstellen, müssen etwa 70 000 Zeichen gelernt worden sein", so Posner. Wenn man diesen "Vorrat" beherrscht, habe man allerdings den Vorteil einer sehr geringen Textlänge. "Der enorme Aufwand fürs Lernen zahlt sich also bei der Anwendung aus."

In welcher Form man auch von den Maschinen "lernen" kann, wird Massimo Serenari (TU Berlin) zusammen mit Cornelia Müller (FU Berlin) auf dem Kongress der DGS zeigen. So habe man sich in der DDR häufig der "Leierkastengeste" bedient, um auf das hohle Gerede der Politiker anzuspielen. Im Westen werde die Geste des Kurbelns ganz allgemein für verbales Herunterleiern benutzt. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass Gebrauchsbewegungen sich in alltagstaugliche Gesten verwandeln. Mehr über den engen Zusammenhang zwischen Technik und Semantik, der in der Vergangenheit oft unterschätzt wurde, ist in Dresden zu erwarten.

Tom Heithoff

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