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Gesundheit: „Von Hass durchdrungener Schleim“

Seine Augen sind tellergroß, sein Körper ist bis zu 18 Meter lang – der Riesentintenfisch. Über ihn gibt es viele Mythen. Aber wie lebt er wirklich?

Von Matthias Glaubrecht

Er ist das Meeresungeheuer schlechthin, Stoff für Schauermärchen, ebenso riesig wie rätselhaft, ein Mythos: der Riesentintenfisch. Zoologen nennen ihn Architeuthis. Victor Hugo hatte für die Tiere seine ganz eigene Wortwahl: Der französische Romancier bezeichnete die fürchterlichen Kraken aus der Meerestiefe als „Wabbeliges, das einen Willen hat“, und als einen „von Hass durchdrungenen Schleim“.

Nicht nur Hugo hat sich in seinem Roman „Die Arbeiter des Meeres“ um die Riesenkraken gekümmert. Die Tiere geistern durch zahllose Bücher und Filme – von Jules Vernes „20 000 Meilen unter dem Meer“, Herman Melvilles „Moby Dick“ bis hin zum Filmschocker „Biest“. Und schon den Griechen galt das Fleisch des Octopus als ein Aphrodisiakum.

Wie aber sieht das wahre Leben des Riesentintenfischs aus? Gesehen wurde das Tier bislang nur tot oder sterbend. In ihrem natürlichen Lebensraum hat kein Mensch Riesentintenfische je beobachten können. Das hat auch der britische Tintenfischforscher Malcolm Clarke sein Leben lang vergeblich versucht.

Von seinen Kollegen ehrfürchtig „Captain Beak“ genannt, war Clarke jahrzehntelang auf der Suche nach Architeuthis. Als Inspektor auf Walfangschiffen und -stationen tätig, hat er die Mägen getöteter Wale nach den Überresten von Riesentintenfischen durchsucht und dabei zu Tausenden ihren Schnabel studiert, der dem der Papagaien ähnlich ist. Viele der Erkenntnisse, die man über die Tintenfische hat, beruhen auf der Auswertung solcher Funde, wie Clarke jetzt in einem Vortrag an der Freien Universität Berlin darstellte.

Zwei Gruppen lassen sich unterscheiden: Neben den echten achtarmigen Kraken wie beispielsweise Octopus, die meist am Meeresboden leben, gibt es zehnarmige Kalmare (als „Calamari“ für viele ein kulinarischer Genuss). Sie bevorzugen das freie Wasser der Hochsee. Zwar existieren mit ein bis zwei Metern Körperlänge auch wahrhaft große Kraken, doch die Riesentintenfische aus Mythologie und Märchen sind genau genommen Riesenkalmare.

Architeuthis gehört unangefochten zu den Giganten unter den Tieren; nur einige Wale werden noch größer. Allein der Durchmesser seiner tellergroßen Augen mit bis zu 25 Zentimetern (und damit den größten im Tierreich) lässt dies erahnen. Riesenkalmare erreichen Körperlängen von bis zu 18 Metern – inklusive der acht Arme und der beiden Fang-Tentakel, auf die zehn bis zwölf Meter entfallen.

Auch der übrige Körper ist imposant. Die zahllosen Saugnäpfe des Architeuthis sind jeder mit einem Kranz feiner Zähnchen besetzt, mit denen sie ihre Beute besser festhalten können. Und um diese dann zu zerkleinern, besitzen sie einen kräftigen, bis zu 15 Zentimeter langen, papageien-ähnlichen Hornschnabel im Maul.

Weil man nur gestrandete Tiere gesehen und studiert hat, weiß man inzwischen viel über die Anatomie – über das Verhalten des Riesentintenfischs aber ist so gut wie nichts bekannt. Trägt man Funde und Beobachtungen in einer Karte ein, zeigt sich, dass Riesenkalmare offenbar die kalten Gewässer der Nord- und Südhalbkugel bevorzugen, wo sie vermutlich in großen Tiefen von 300 bis über 1000 Meter leben.

Was sie fressen, ist nicht ganz klar. Die Mägen der Tiere enthielten, sofern sie nicht leer waren, nur einen vom kräftigen Schnabel vorbereiteten Brei. Lauern die gewaltigen Mollusken ihrer Beute gemächlich in der lichtlosen Tiefe auf? Oder sind sie schnelle Überraschungsjäger? Sterben auch Riesenkalmare jung, wie die meisten Tintenfische schon nach nur drei Jahren? Oder leben diese vermeintlichen Monster als Methusalem der Tiefsee? Und sind sie wirklich so selten? Oder verbergen sich gar Millionen Kalmare dort unten?

Der amerikanische Kalmarforscher Clyde Roper wollte 1997 endlich Antworten auf diese Fragen und rüstete die bis dahin teuerste Expedition aus. Ropers Team steuerte den Kaikoura Canyon vor der Küste Neuseelands an, denn in dieser Meeresregion waren zuvor mehrfach Riesentintenfische in Netze geraten. Außerdem ist der Meeresgraben bevorzugter Treffpunkt von Pottwalen. Doch weder die in die Tiefsee abgesenkten Kameras noch jene, die man den Walen auf dem Rücken montiert hatte, lieferten die erhofften Bilder schwimmender oder gar mit Walen ringender Riesenkalmare, die die Millionen-Dollar-Ausgabe gerechtfertigt hätten.

Dafür fand man erst kürzlich Neues über das recht bizarre Paarungsverhalten der Riesentintenfische heraus. Wie vielen anderen Tintenfischen, fehlt auch dem Männchen von Architeuthis ein echter Penis. Die Tiere haben zwei ihrer Arme zu einem Begattungsorgan – den Hectocotylus – umgebaut. Während der Paarung führen die Männchen normaler Tintenfische den Hectocotylus in die Mantelhöhle des Weibchens ein und transferieren so kleine Spermapakete in unmittelbare Nähe der weiblichen Keimzellen.

Dagegen bedient sich Architeuthis offenbar einer anderen, weniger einfühlsamen Technik. Ein etwa 15 Meter langes Weibchen des Riesenkalmars, das Fischern unlängst vor der Küste Tasmaniens ins Netz ging, wies an zwei Stellen kleine Hautverletzungen auf. Darunter fanden Forscher kleine Spermienpakete. Ein Männchen muss sie dem Weibchen regelrecht unter die Haut injiziert haben.

Im Gegensatz zu anderen Tintenfischen, die Spermien oft über Monate in speziellen Samentaschen etwa im Mantelraum oder im Genitaltrakt speichern, scheint Architeuthis die gezielte Ablage direkt unter der Haut zu bevorzugen. Forscher spekulieren seit diesem Fund, ob die Männchen des Tiefseegiganten möglicherweise ihre Kiefer oder ihre mit Zähnchen bestückten Saugnäpfe einsetzen, um kleine Wunden in die Haut der Weibchen zu ritzen, in denen dann die Spermienpakete deponiert werden.

Da das vor Tasmanien ins Netz gegangene Weibchen noch nicht geschlechtsreif war, könnte die unter die Haut gehende Paarungsmethode der Riesenkalmare zur Sicherung der Fortpflanzung dienen. Möglicherweise kommt es in den lichtlosen Tiefen der Weltmeere nicht allzu häufig zur Begegnung potenzieller Paarungspartner. Unter diesen Umständen ist es sehr nützlich, wenn auch noch nicht geschlechtsreife Weibchen nach einer Kopulation einen Samenvorrat solange speichern können, bis sie damit ihre Eier befruchten.

Wie die Spermien allerdings aus dem Depot unter der Haut in den Geschlechtsgang der Weibchen und zu den Eiern gelangen, bleibt rätselhaft. Rätsel genug haben sich die Riesenkalmare also noch immer bewahrt.

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