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Gesundheit: Wenn die Türme im Traum erscheinen

Die Bilder des 11. September haben die Seele vieler Menschen verletzt – doch es gibt auch Hilfe

Von Hubertus Breuer,

New York

Als Lisa N. am 11. September 2001 nahe dem World Trade Center aus einem U-Bahnschacht stieg, sah sie als erstes die in Flammen stehenden Wolkenkratzer und Menschen, die sich aus den rauchverqualmten Scharten stürzten. Zu viel für die junge Frau. Seither leidet sie an Albträumen: „Ich bin im World Trade Center, kurz bevor das Gebäude einstürzt; es gibt keinen Ausgang.“

Der Tag traumatisierte eine ganze Nation. Doch erst allmählich schält sich heraus, welche Wirkung das Ereignis auf unsere Psyche eigentlich genau hatte – angetrieben von Psychologen, Psychiatern und Neurobiologen, die sich vom ersten Tag des Anschlags an den Beschädigungen des Geistes widmeten. „Viele Forscher in den USA interessieren sich heute für psychische Störungen infolge katastrophaler Erlebnisse“, sagt der Hormonforscher Bruce McEwen von der New Yorker Rockefeller-Universität. „Natürlich auch, weil es für diese Fragen mehr Geld gibt.“

Der Anschlag verwandelte das Land in ein großes Labor, in dem Wissenschaftler die Auswirkungen der Tragödie auf Millionen Menschen beobachteten. Eine Situation, die es vorher nur nach dem Vietnamkrieg gegeben hatte, als viele der heimkehrenden Soldaten über Albträume, Schlaflosigkeit, peinigende Erinnerungen, Schuldgefühle und leichte Erregbarkeit klagten. Ein Bündel von Symptomen, das 1980 als posttraumatisches Belastungssyndrom, kurz PTBS, Eingang in die Diagnosehandbücher fand.

Die Befragungen in New York begannen im Oktober auf breiter Basis. 7,5 Prozent berichteten über psychische Beschwerden, die mit PTBS übereinstimmten. Jeder Zehnte litt an Depressionen – an Lebensunlust, Minderwertigkeitsgefühlen oder Appetitlosigkeit. Diese Rate psychischer Störungen liegt dreimal so hoch, wie es in friedlicheren Zeiten zu erwarten wäre. Unvermeidlich nahmen auch die psychischen Ablenkungsmanöver zu: New Yorker tranken mehr Alkohol, schluckten mehr Schlaftabletten und, je nach Präferenz, rauchten mehr Zigaretten oder Marihuana.

Kinder verkrafteten die Ereignisse besonders schwer. Bei ihnen kam eigenartigerweise zur Depression und zum Belastungssyndrom noch Agoraphobie hinzu, die Angst vor offenen Plätzen. Insgesamt, schätzten Wissenschaftler im Fachblatt „Journal of the American Medical Association“ (Jama), seien landesweit rund 500 000 Menschen infolge des 11. September vom Belastungssyndrom betroffen. Außerhalb New Yorks natürlich weniger. So gaben in Washington nur 2,7 Prozent der Befragten an, nach dem Angriff psychisch zerrüttet zu sein. Das liegt auch daran, dass der Angriff auf das Pentagon sich optisch weniger ins Gedächtnis der Menschen einbrannte – und nicht als grausiges Dauerspektakel im Fernsehen abgespielt wurde. Dabei, so belegte die Jama-Studie überraschend, reichte es für manche offenbar aus, die über alle Kanäle ins Heim überlieferten Terrorbilder zu sehen, um die Symptome des posttraumatischen Belastungssyndroms zu entwickeln. Bisher glaubten Forscher, dass, um an dieser Störung zu leiden, man ein schreckliches Ereignis mit eigenen Augen unmittelbar erlebt haben müsste.

Was sich bei der Störung im Gehirn abspielt, erforscht der Neurobiologe Scott Rauch vom Massachusetts General Hospital in Boston. Er stellte fest, dass Kriegsveteranen, die am Belastungssyndrom leiden, eine überaktive Amygdala haben, eine mandelförmige Struktur tief im Gehirn, in der Gefühle wie Angst ihren Sitz haben. Die Amygdala versetzt uns in Alarmbereitschaft. Gleichzeitig sendet diese Struktur aber offenbar kaum Signale an das Stirnhirn, das dem Menschen hilft, emotionale Erfahrungen rational zu beurteilen. Die Folge: die Versuchspersonen Rauchs fühlten sich bedroht, selbst wenn sie sich in sicherer Umgebung aufhielten.

Traumata lassen sich vielseitig behandeln, mit Therapien bis hin zu Psychopharmaka. Mancher Arzt bietet jedoch ungewöhnliche Methoden an, sich von den peinigenden Bildern der explodierenden Türme zu befreien. Schlafexperte Barry Krakow vom „Sleep and Health Institute“ in Albuquerque, New Mexiko, schlägt vor, die Horrorbilder mit positiven Bildern, die im Wachzustand eingeübt werden, zu „überschreiben“.

Der Mediziner verweist darauf, dass Träume nach Katastrophen das Erlebte meist nur noch einmal abspielen und so die emotionale Heilung fördern. Lassen die Albträume aber nicht nach, wirken sie zerstörend – sie gleichen einer kaputten Schallplatte, die ständig dieselbe Passage wiederholt und den Schläfer stets aufs neue traumatisiert.

Eine letztes Jahr in „Jama“ veröffentlichte Studie belegt, dass die Therapie meist funktioniert – auch für Lisa N. Ihr gelang es auf diesem Wege, statt in einem der einstürzenden Türme zu Grunde zu gehen, im Traum die Schönheit der Twin Towers von außen zu bewundern. Inzwischen sind ihre Nächte nicht mehr so bedrohlich.

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