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Gesundheit: Wo einst künstliche Blitze zuckten

Verlassen liegt es da - das Hofgelände der ehemaligen AEG-Transformatorenfabrik an der Edison- Ecke Wilhelminenhofstraße in Berlin-Oberschöneweide. Nichts lässt mehr darauf schließen, dass hier einmal künstliche Blitze zuckten.

Verlassen liegt es da - das Hofgelände der ehemaligen AEG-Transformatorenfabrik an der Edison- Ecke Wilhelminenhofstraße in Berlin-Oberschöneweide. Nichts lässt mehr darauf schließen, dass hier einmal künstliche Blitze zuckten. Während die angrenzenden riesigen Hallen der Transformatorenfabrik als Teil des Kultur- und Technologiezentrums Rathenau besseren Zeiten entgegenträumen, hat im Hof die Abrissbirne bereits ihr Werk verrichtet. Nur die Giebel-Schnittfläche, die sich von der ziegelgelben Hauswand abhebt, lässt erahnen, dass dort ebenfalls einmal eine grosse Halle stand - das Hochspannungslaboratorium der AEG.

Auf seinem Dach stand der Stoßspannungsgenerator, damals der leistungsfähigste seiner Art in Europa. 2,4 Millionen Volt konnte er bereitstellen - zwar nur für die Dauer von einigen Millionstel Sekunden, dies aber im Sekundentakt - genug, im Labor ein kräftiges Gewitter zu simulieren. Erst für die Prüfung der Gewitterfestigkeit von Transformatoren und Schaltern gedacht, wurde dem Laboratorium Ende der zwanziger Jahre eine neue und spektakuläre Rolle zuteil - die Beschleunigung elektrisch geladener Elementarteilchen für die Atomzertrümmerung.

Atomzertrümmerung und Transmutation der Elemente waren Begriffe, die Fachleute und Laien gleichermaßen elektrisierten, nachdem es dem britischen Physiker Ernest Rutherford 1917 in Laborversuchen erstmals gelungen war, Stickstoff in Sauerstoff zu verwandeln. Die notwendigen Projektile - Alphateilchen - hatte er einem natürlich radioaktivem Element wie Radium entnommen. Sehr knapp und daher kostbar, standen solche Strahler aber nur in äußerst limitierten Mengen und damit schwachen Intensitäten zu Verfügung. Zudem war die Energie ihrer Projektile von Natur aus begrenzt.

Daher wollten die Physiker Teilchenstrahlen auch im Labor erzeugen und nach Belieben manipulieren. Um aber elektrisch geladene Teilchen wie Elektronen, Protonen oder Alphateilchen (Heliumkerne) auf hohe Energien zu beschleunigen, brauchte es hohe Spannungen - womit die Jagd auf das beste Prinzip zur Erzeugung extremer Spannungen eröffnet war.

18 Meter Schlagweite

Es waren drei junge Physiker aus Berlin - Arno Brasch, Fritz Lange und Kurt Urban - die auf die Idee kamen, die Energie natürlicher Blitze für die Beschleunigung geladener Teilchen nutzbar zu machen. Hinter ihnen stand mit Walther Nernst eine Autorität mit Nobelpreis. Die an Blitzen reichste Gegend Europas ist der Tessin. Hier, am Monte Generoso, wenige Kilometer südlich von Lugano, begannen die Berliner im Sommer 1927 mit der Installation eines Blitzfängers - einer mehrere hundert Meter langen Antenne, die ein ganzes Tal überspannte. Bei Annäherung von Gewittern wurde die zu Meßzwecken installierte Funkenstrecke von fast fünf Metern Öffnungsweite mühelos überschlagen - und war für Meßzwecke mithin nutzlos. Im folgenden Jahr wurde die Anordnung deshalb verbessert - jetzt kam man auf bis zu 18 Meter Schlagweite, was etwa 16 Millionen Volt entspricht.

Risiken bei der Arbeit

Von der Messung solcher Spannungen bis zu ihrem Einsatz zur Beschleunigung geladener Teilchen war es technisch aber noch ein sehr weiter Weg: welche Apparatur wäre damals in der Lage gewesen, solche Spannungen auch nur im entferntesten auszuhalten? Das Tun der Berliner Physiker barg erhebliche Risiken: der mehrfache Abriss von Stahlkabeln, Entladungen, ja Blitztreffer während der Montagearbeiten und nicht zuletzt der tödliche Absturz von Kurt Urban am 20. August 1928 brachten das Vorhaben in eine Schieflage, die den Abbruch erzwang.

Zurück in Berlin, entsann man sich jetzt der Möglichkeiten, die die Stadt Berlin, Rathenaus "Elektropolis", das Zentrum der deutschen Elektroindustrie, zu bieten hatte: Brasch und Lange wandten sich an die AEG mit der Bitte, ihr neues Hochspannungslabor nutzen zu dürfen, das erst wenige Jahre zuvor von der Brunnenstraße in Wedding nach Oberschöneweide verlagert worden war. Der mächtige Stoßspannungsgenerator konnte zwar "nur" 2,4 Millionen Volt produzieren, er war dafür aber gefahrlos zu nutzen.

Brasch und Lange konzentrierten ihre Arbeit bei AEG fortan auf die Konstruktion eines Entladungsrohres, das die extremen Spannungen aushielt, ohne dabei - wie anfangs befürchtet und geschehen - bei jedem Spannungsstoß in die Luft zu fliegen. Unterstützt wurden sie dabei von jungen Physikern wie Kurt Lenz und Adnan Waly, die ihre experimentelle Doktorarbeit schrieben. Anfang der dreißiger Jahre war die Apparatur bei AEG soweit entwickelt, dass man intensivste Elektronenstrahlen demonstrieren konnte, die bei Austritt aus der Röhre die Luft zu gespenstisch blauem Leuchten brachten.

Die Produktion solch energiereicher Elektronen war natürlich kein Selbstzweck. Die Elektronen konnten - auf ein metallisches Ziel gelenkt - dazu verwendet werden, energiereiche Röntgenstrahlen zu erzeugen, deren Härte nuklearer Gammastrahlung entsprach. Mit dieser Strahlung waren Brasch und Lange deshalb 1934 in der Lage, aus dem Erdalkalimetall Beryllium Neutronen freizusetzen, jene Kernbausteine also, die ein Mitarbeiter Rutherfords, James Chadwick, erst 1932 entdeckt hatte.

Neutronen aber sollten sich, da elektrisch neutral, wenig später als der wahre Schlüssel zur Atomzertrümmerung erweisen: mit ihrer Hilfe gelang Otto Hahn und Fritz Strassmann 1938 die Spaltung des Atomkerns. Brasch und Langes Röntgenstrahlen waren zudem nicht nur für die Kernphysik (Atomzertrümmerung) interessant, sondern eröffneten auch der zerstörungsfreien Materialprüfung sowie der Strahlentherapie ganz neue Möglichkeiten.

Auch in der Medizin nutzbar

Gerade in der Medizin setzte sich zu Beginn der dreißiger Jahre der Trend durch, immer härtere Röntgenstrahlen einzusetzen, um auch tieferliegende Tumore bestrahlen zu können (Tiefentherapie). Für die AEG, die sich im Gegensatz zu, aber in Absprache mit Siemens auf die Produktion von Therapieröhren spezialisiert hatte, war dies das entscheidende Argument gewesen, die Arbeiten von Brasch und Lange materiell zu unterstützen.

Die bei AEG-TRO so hoffnungsvoll und ertragreich begonnenen Arbeiten fanden 1935 ihr unzeitiges Ende: die braune Faust der Nazis trieb die Arbeitsgruppe auseinander. Der mit der Erprobung der Röntgenstrahlen für Zwecke der Tiefentherapie befasste Ludwig Halberstaedter, Direktor der strahlentherapeutischen Abteilung am Institut für Krebsforschung der Charité, verlor schon 1933 Stellung und Lehrbefugnis, weil er Jude war. Er emigrierte umgehend nach Palästina. Brasch, wie Halberstaedter jüdischen Glaubens, floh in die Vereinigten Staaten, wo er die in Berlin begonnenen Arbeiten fortsetzte. Lange, der der KPD nahestand, suchte Zuflucht in der UdSSR, wo er erst in Charkow, später in Ufa und Swerdlowsk, schließlich in Moskau über kernphysikalische Themen arbeitete. Adnan Waly, der einen ägyptischen Vater hatte und mit einer Jüdin verheiratet war, wandte sich nach Ägypten und von dort schließlich in die USA.

Die Blitze von Oberschöneweide wurden seitdem nur noch gelegentlich und dies immer seltener für Forschungszwecke genutzt. Mit Kriegsbeginn schließlich stellte die AEG die Fertigung von Röntgenröhren für die Strahlentherapie vollständig ein. An die Stelle der künstlichen Blitze trat jetzt das Wetterleuchten der heraufziehenden politischen Katastrophe, die die AEG unter allen deutschen Elektrounternehmen am härtesten treffen sollte.

Von diesem Schlag hat sich die AEG praktisch nie mehr vollständig erholt. Nach dem endgültigen Untergang des Unternehmens bietet vielleicht sein ideeller Erbe, das Kultur- und Technologiezentrum Rathenau, die Chance, die Erinnerung an diese bisher kaum bekannte Episode der Wissenschafts- und Technikgeschichte künftig wach zu halten.

Burghard Weiss

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