zum Hauptinhalt

Panorama: Gipfel der Gefühle

Helga Hengge war die erste deutsche Frau, die den Mount Everest bestieg – was sie empfand, als sie auf dem höchsten Punkt der Erde stand

Nach Tibet zu reisen, war ein Jugendtraum von mir, sowie nach Mustang und Nepal. Schon meine Großeltern waren dort. Doch die Idee von der Höhenbergsteigerei hatte ihren Ursprung in New York: als ich an einer gigantischen Kletterwand hing. Da hat es mich gepackt. Mit bärtigen Männern im Zelt zu sitzen, sich Geschichten zu erzählen, wenn draußen der Wind pfeift und sich dabei von den Strapazen des Tages erholen. Den Mount Everest hatte ich mir lange nicht zugetraut. Er ist wie Hollywood für jeden Schauspieler. Dann war es soweit. Ich hatte die 35 000 Dollar für Ausrüstung und Flug zusammen.

Meine Eltern wussten bis dahin nicht mal was ich vorhatte. Für sie war ich einfach nur auf TrekkingTour. Denn das hätte sie vor Angst wahnsinnig gemacht. Meine Freunde in München haben gesagt „Du spinnst. Du kannst sterben. Was willst du dir beweisen?" Aber ich war glücklich wie nie zuvor. Ich habe täglich trainiert, gejoggt im kalten New York, wo ich damals lebte, um mich abzuhärten. Dann habe ich haufenweise Pasta, Kuchen, Steaks und Kartoffeln gegessen, damit ich zehn Kilo zulege. Ich war wie im Rausch, so voller Vorfreude war ich. Dabei ging es mir nur darum, dabei zu sein, nicht darum, unbedingt auf den Gipfel zu kommen. Ich habe mich für die Nordflanke entschieden, da das Klettern für mich bisher kein Problem war.

Doch als ich dann nach zehn Tagen Tibet bei trübem Wetter im Basislager auf 6400 Metern Höhe ankam dachte ich: „Um Gottes willen, worauf habe ich mich bloß eingelassen." Es war wie eine riesige Kiesgrube im Nirgendwo. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen und Albträume. Am nächsten Morgen weckte mich die Sonne. Da habe ich den Mount Everest in seiner vollen Größe gesehen. Wunderschön! Diese Stille, die der Berg ausstrahlt, diese Luft. Ich war bereit, mich zwei Monate lang auf die Launen dieses Berges einzulassen. Jeden Tag stiegen wir ein Stück höher und wieder zurück zum Basislager. So konnten wir uns langsam an die extremen Höhen gewöhnen. Außer mir waren nur Männer dabei: zwei japanische und zwei australische Bergsteiger, sowie zwei Köche, drei Tibeter und der Bergführer Russell Brice. Ganz besonders war die Beziehung zu den Sherpas. Wir haben zusammen bei Suppe und Tee gesessen, geredet und geblödelt.

Die anderen Bergsteiger hatten einen wahnsinnigen Druck, auf den Gipfel zu müssen. Zum Teil, weil sie Verträge mit Sponsoren hatten, aber auch aus Ehrgeiz. Über einem der Japaner, stark wie ein Ochse, hing der Gipfel wie ein Damokles-Schwert. Er war in einer Nacht mit mir im Zelt, er war fertig. Ich habe ihm Mut gemacht. „Wir stellen uns jetzt vor, dass wir in einen Daunenkokon schlüpfen und schlafen ein. Morgen breiten wir dann die Flügel aus." Denn obwohl ich eher schmächtig bin, bin ich es mit Leichtigkeit angegangen. Ich konnte mich dem Berg hingeben, ohne ständig nachzurechnen. Trotzdem wurde das Warten auf das „Wetterfenster" irgendwann sehr lang. Manche hatten Panik, ob wir es überhaupt schaffen, auf den Gipfel aufzubrechen. Denn die Muskelkraft lässt nach in dieser Höhe und man verliert Gewicht. „Ich kann fliegen", dachte ich an manchen Tagen. Doch einmal hatte ich zu wenig getrunken und brach erschöpft zusammen.

In vier Tagen stiegen wir von Camp zu Camp hinauf. In einer Höhe ab 7500 Metern beginnt die „Todeszone". Unvermittelt trafen wir dort auf Leichen von Bergsteigern, die es nicht geschafft haben. Es war wie ein Schock. Ich musste losheulen, obwohl ich darauf vorbereitet war. Sherpa Lobsang nahm mich in den Arm: „No fear, Helga".

Ich habe in den vier Tagen nur sieben Kekse gegessen, ich hatte keinen Appetit. Dann stiegen wir zum Gipfel. Es begann um Mitternacht. Nachdem wir über eisige Felsen, „das gelbe Band", geklettert sind, kamen wir auf den Nordgrat. Es war fast Vollmond und absolut still. Das Mondlicht fiel weich auf nicht enden wollende Schneematten. Der Berg schien von innen zu leuchten. Und ich war der kleinste Stern am Himmel. Ich gehörte dazu.

Eine Stunde taumelte ich im Glücksrausch. Es war der Gipfel. Wie still die Morgensonne die Welt in ihrem Licht erstrahlen ließ. Eine unendliche Glückseligkeit durchströmte mich. Es war wie ein Schweben. Der Gipfel selbst war gerade mal so groß wie ein Küchentisch. Ich drehte mich im Kreis, ein Leuchten durchströmte meinen Körper und ich hatte das Gefühl abzuheben. Kein einziges Hindernis in Sichtweite: Ich sah die Krümmung der Erde am Horizont. Es war kein Traum! Wir waren wirklich am höchsten Punkt der Erde angekommen.

In Kathmandu habe ich sechs Tage und Nächte gefeiert. Ich habe jede warme Dusche zelebriert, morgens ein Bier getrunken, wenn mir danach war. Zusammen mit anderen Kletterern haben wir getanzt bis vier und gefeiert in dieser bunten Hippie-Stadt am Fuß des Himalaja. Wie fühlt man sich nach einem solchen Erlebnis? Wie von den Göttern berührt.

Aufgezeichnet von Corinne Schmid.

Helga Hengge stand am 27. Mai 1999 eine Stunde lang auf dem Gipfel des Mount Everest. Die damals 32-Jährige lebte elf Jahre lang als Modestylistin in New York und wohnt jetzt in München. Ihr Buch „Nur der Himmel ist höher – mein Weg auf den Mount Everest" ist bei Knaur ( 9,90 Euro) erschienen.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false