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Panorama: „Ich verlange kein Verständnis“

Vor dem Hamburger Landgericht hat der Prozess gegen die Eltern der verhungerten Jessica begonnen – von Reue ist nichts zu spüren

Die Angeklagte hat sich verhüllt. Die Kapuze ihres schwarzgrauen Pullovers tief ins Gesicht gezogen, huscht Marlies Sch. in den Gerichtssaal des Hamburger Landgerichts und setzt sich so hin, dass sie den Prozessbesuchern den Rücken zukehrt. Ihr Haupt verbirgt die 36-Jährige nicht ohne Grund, wie die Anklage zeigt, die der Staatsanwalt im Fall „Jessica“ dann vorträgt: „Misshandlung von Schutzbefohlenen und Mord durch Unterlassen“, lautet der Vorwurf gegen die Mutter.

Er richtet sich auch gegen den früheren Ehemann der Angeklagten, gegen den gelernten Maler und Lackierer Burkhard M., der unverhüllt auf der Anklagebank Platz nimmt: ein grauhaariger Herr mit Pferdeschwanz und Stirnglatze. Der Tod eines sieben Jahre alten Mädchens wird den beiden Angeklagten zur Last gelegt, der Tod der kleinen Jessica, die in der Nacht zum 1. März 2005 in einem siebenstöckigen Hochhaus im Stadtteil Jenfeld an Erbrochenem erstickte, zuvor aber bereits abgemagert war auf das Gewicht einer Zweijährigen. Gerade 9,6 Kilo wog Jessica noch, als sie qualvoll starb. Niemand im Haus hatte sie jemals gesehen. Sie besuchte keinen Kindergarten, keine Schule. Sie lebte eingesperrt in einem kahlen Zimmer, dessen Fenster mit dunkler Folie abgeklebt waren.

Jessica schlief auf einer Decke, die über nackte Sprungfedern gebreitet war. Der Teppich war durchlöchert. Jessica hatte ihren Hunger gestillt, indem sie die Wolle vom Gummibelag gerissen und sich in den Mund gestopft hatte. „Den Angeklagten wird zur Last gelegt, ihre Tochter Jessica gröblichst vernachlässigt zu haben, so dass diese sich weder körperlich noch geistig auch nur ansatzweise altersgerecht entwickeln konnte“, trägt der Staatsanwalt in nüchternem Juristendeutsch vor. Vor allem aber wird Jessicas Mutter und dem mitangeklagten Stiefvater vorgeworfen, „in gegenseitigem Einverständnis beschlossen zu haben, ihre Tochter sterben zu lassen“. Ausdrücklich betont der Anklagevertreter, die Grausamkeit als besonderes Mordmerkmal. Laut Anklage haben Marlies Sch. und Burkhard M. nicht darauf vertraut, dass ihre Tochter verhungern oder ihren seelischen Qualen erliegen würde. Der Stiefvater soll eine Stromfalle gebastelt haben. Es sollte wie ein Haushaltsunfall aussehen. Ein Lichtschalter war so manipuliert worden, dass beim Betätigen ein Stromschlag ausgelöst worden wäre. Völlig unbewegt folgt Burkhard M. der Anklageverlesung. Seine Verteidigerin teilt daraufhin mit, dass er sich vor Gericht nicht äußern wird. Sie bezieht sich dabei auf das vorläufige Gutachten des Essener Psychiatrieprofessors Norbert Leygraf, wonach der alkoholabhängige, in sich gekehrte Sozialhilfeempfänger eine „passive Grundhaltung“ und eine „wenig dynamische Grundpersönlichkeit“ aufweise.

„Ich erwarte keine Rücksicht, ich verlange kein Verständnis für Dinge, die nicht zu verstehen sind“, lässt schließlich Jessicas Mutter über ihren Verteidiger erklären. Es werde zwar schwer für seine Mandantin werden, aber sie wolle sich zu ihrer Schuld bekennen, kündigt der Anwalt Manfred Getzmann an. „Wir wollen ein Urteil, dass der Sache gerecht wird“, sagt der Verteidiger. Nicht um Rache dürfe es dabei gehen, sondern um Prävention: „Das Urteil sollte all den Kindern nützen, die ebenfalls nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.“ Damit spielt der Anwalt auf Versäumnisse der Hamburger Sozial- und Schulbehörden an, die niemals ernsthaft eingeschritten waren, obwohl Jessicas Eltern trotz mehrerer Ermahnungen ihr Kind nicht zur Schule geschickt hatten. Marlies Sch. wischt sich nur zu Beginn eine Träne weg, dann beantwortet sie alle Fragen zur Person mit leiser, aber fester Stimme. Für den Prozess sind zehn Verhandlungstage vorgesehen.

Heinrich Thies[Hamburg]

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