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Panorama: Ihr da drinnen, wir hier draußen

Viel Bingo, wenig Sex – 2050 kann heiter werden, muss aber nicht. Eine Vision von Moritz Rinke

Offen gestanden bin ich mir gar nicht sicher, ob 2050 so witzig wird. Ich bin ein Mensch, der schon mit 38 glaubt, dass früher alles besser war – und nun 2050?! Wie soll ich einschätzen, was es dann alles gibt, wenn ich innerhalb von drei Jahren meine ganzen VHS-Kassetten wegschmeißen muss und schon den zehnten Drucker kaufe, weil es jedes Mal die blöde Druckerpatrone nicht mehr gibt? Gut, das ist kleinlich, aber bei der Druckerpatrone fängt der Wahnsinn ja schon an!

Außerdem frage ich mich natürlich erst einmal grundsätzlich, ob wir überhaupt so weit kommen werden. 2050! Jahrtausende hat die Menschheit mit Feuer, mit Pferdekutschen, Tinte aus Gänsefedern (!), Kräuterkunde und Segelschiffen überlebt. Natürlich war sie von den Mächten der Natur abhängig und vom Schicksal, denn medizinisch, technisch, wirtschaftlich konnte sie nicht so viel steuern, aber sie hat eigentlich ganz gut überlebt.

Mit der industriellen Revolution aber wurde sie selbst zum Gestalter einer steuerbareren Zukunft, immer unabhängiger von der Natur, auch immer anmaßender in ihrem Eingreifen. Seit einigen Jahren wissen wir, dass die Natur, was unseren Umgang mit ihr betrifft, da einige Antworten hatte: Hochwasser, Hurrikanes, Rinderwahnsinn, Vogelgrippe, alles Themen, die zwar immer wieder aus unserem Bewusstsein verschwinden, aber ganz bestimmt nicht aus der Welt.

Die Frage bleibt: Wie viel Eingriff und Verdrängung ist noch möglich, reicht es noch bis 2050?

Ich bin mir da nicht so sicher, wenn man die Fortschrittskurve der letzten 50 Jahre zugrunde legt, in denen wir entwickelten, dabei in den ökologischen Kreislauf eingriffen und danach verdrängten. Vermutlich erreichen wir 2050 nur noch mit einem ökoradikalen Machtregime, einer Anti-Kohlendioxid-Revolution, geführt von Kyoto-Diktatoren.

2050 bin ich, wenn Gott will, 83 Jahre alt. Vermutlich werde ich trotz Kulturkonservatismus eine ungeklonte 12-jährige Tochter haben, nicht um dem demografischen Wandel mit Bravour entgegenzutreten oder hier anzugeben, sondern weil bei uns in der Familie die Theorie, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, schon immer sehr viel über die Zukunft der Rinkes voraussagen konnte. Soweit zu meiner persönlichen Lage. Rente habe ich keine, das kann ich mir an fünf Fingern abzählen. Für meine 12jährige hoffe ich aber, dass ich dann irgendwann ab dem 22. Jahrhundert bei einem zu befürchtenden Mehrwertsteuersatz von 98 Prozent wenigstens Klassiker geworden bin, sofern es Theater und Bücher da überhaupt noch gibt. Sicher bin ich mir nicht.

Der „Tagesspiegel“ auf jeden Fall wird nicht mehr rascheln, wenn man ihn umblättert, der kommt digital raus, grauenhafte Vorstellung; der Ausbruch des immer eigenartiger werdenden Berliner Frühlings zum Beispiel, beobachtet durch die wunderbare, 95-jährige Elisabeth Binder, könnte sogar, laut so genannter „Technikfolgeabschätzung“ der Bundesregierung, per Infrarotsendung auf die Innenseiten unserer Brillen eingespiegelt werden. Die Menschen werden einem einfach so gegenüber sitzen, und ohne dass man es merkt lesen sie die Binder. Die Brillen sind mit dem Internet verbunden, man trifft jemanden, fragt, wie er heißt, und dann kann man sofort googeln. Und eines kann man versprechen: Zeit werden wir haben, viel Zeit.

Fest steht nämlich, dass ich umgeben sein werde von 40 Prozent Menschen in meinem Alter. Geburtenrückgang, steigende Lebenserwartung, die demografischen Erhebungen sagen solch ein Verhältnis voraus. Da sich Demografie an heutigen Entwicklungen orientiert, würde mich so eine Art Werte-Demografie zu der Frage interessieren, wie der jüngere Teil der Gesellschaft mit mir, dem älteren, umgehen wird?

Momentan, am Beginn des 21.Jahrhunderts, ist bei uns alles so eingerichtet, um Menschen möglichst schnell als alt zu definieren. Erfolgreich sind die Jungen, erfolgreich ist das Neue, die Werbung assoziiert, wo man hinsieht, Lebensqualität mit Jungsein, und wenn man nicht beim Älterwerden alles daran setzt, die Macht oder den Erfolg festzuhalten und zu verteidigen, muss das nicht schön sein, in diesem Land älter zu werden. Ich frage mich oft, ob das in anderen Ländern auch so ist, aber in Deutschland ist es so. Hier scheint das Alter nichts zu zählen.

Bestimmt hat das auch mit der unheilvollen Fixierung auf das Erwerbssystem zu tun. Arbeit wird fast als alleiniger Garant für soziale Identität und gesellschaftlichen Wert angesehen, gehen die Menschen in Rente oder werden frühpensioniert, fallen sie quasi aus der Welt. Sie erscheinen über Nacht als alt und beginnen die Restzeit ihres Lebens.

Wie also soll das weitergehen, wenn man den derzeitigen Trend der Frühverrentung mal für die Zukunft hochrechnet? US-Arbeitssoziologen sagen voraus, dass in 50 Jahren zwei Drittel der herkömmlichen Lohngesellschaften ohne Arbeit sein werden, das kann dann bei 40 Prozent an 80-Jährigen ja heiter werden.

Die eine Vision wäre diese: Da es die Politik versäumt hatte, frühzeitig Bürgergesellschaften und andere Aufgabeformen in den unheimlich langen Restzeiten der Menschen zu gestalten, wurde das Land gespalten in einen Innen- und einen Außensektor. Der Innensektor besteht nach meinen spontanen Hochrechnungen aus 15 Prozent Arbeitsbevölkerung unter 55, die, um in Ruhe weiterarbeiten zu können, 75 Prozent des Landes unterhalten und befrieden muss, damit die Überflüssigen nicht den kleinen Rest mit dem verbliebenen Sinn-Potential angreifen.

Der Außensektor besteht aus endlosen Gürteln von weißen riesigen Betonhallen, die sich um den freien Innensektor legen und aus denen man nie wieder rauskommt. Drinnen in den gigantischen, ausbruchssicheren Hallen gibt es nachgebaute Seen, Wälder, Kunstfrühling und Kunstwinter, Vergnügungsparks mit Safari, Holliday on Ice, Spielhöllen. Sex fällt leider weg, da zwei Drittel der 75 Prozent der Außensektormenschen für so etwas schon zu alt sind, vielleicht müssen noch andere Kompensationen her wie künstlicher Krieg oder organisierte Rentner-APO-Randale. Die 15 Prozent im Innensektor bezahlen also ihren Luxus von Sinn gleich Arbeit vollständig damit, den Unmut der Überflüssigen mit irgendwie immer mehr Unterhaltung und Ablenkung und Großraumbingo zu finanzieren, während sie global gesehen von anders gestrickten Gesellschaften wie China, Indien oder Osteuropa allmählich fertig gemacht werden.

Ich glaube, schön wird das nicht.

Neulich war ich in der Melancholieausstellung in der Neuen Nationalgalerie und vor dem Bild „Das Floß der Medusa“ von Géricault lernte ich Prof. Rolf Kreibich kennen vom Institut für Zukunftsstudien in Berlin. Kreibich arbeitet interdisziplinär in sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen in einem so genannten Methoden-Mix aus Trendanalysen, Relevanzbaumverfahren, Delphi-Techniken und Simulationsmodellen. Ein Gespräch mit dem Zukunftsforscher ist komplex, es würde zu weit führen, wenn man hier versuchte, seine Techniken zu erläutern. Auf jeden Fall ist Kreibich das Beste, was einem in einer Melancholieausstellung passieren kann.

In einem Werkstattbericht des IZT-Zukunftspreises 2004 schreibt er, dass wir uns aufgrund der demografischen Entwicklung und der Ausdehnung an beiden Seiten, also Frühverrentung und längere Lebensdauer, schleunigst mit der „Neugestaltung einer langen aktiven biografischen Phase und einer veränderten Beteiligung am gesellschaftlichen Leben“ beschäftigen müssten, „um Zukunft vorzubereiten“.

Man könnte fast sagen, wenn die gegenwärtige Beschäftigungslosigkeit einen Sinn haben könnte, dann eben jenen, genau jetzt neue „Beteiligungen am gesellschaftlichen Leben“ nachhaltig zu kreieren, um eine ansonsten ziemlich absurde Zukunft vorzubereiten.

Eigentlich müsste für eine solche Zukunftsvorbereitung unsere Regierung Mittel bereitstellen, nicht nur für die „Technikfolgeabschätzung“. Unsere Regierungen wollen anscheinend nur wissen, welche Verkehrsmittel und Technologien man braucht, ob es jedoch Sinn macht, überhaupt noch da zu sein, interessiert irgendwie nicht.

Mein abschließendes Szenario, angeregt von Kreibich vor dem Floß der Medusa, ist die Akademie für Alte und Beschäftigungslose als Leitgedanke gegen den Anerkennungsnotstand. In dieser „Akademie 2050“ sitzen die alten und jüngeren beschäftigungslosen Menschen und beschäftigen sich trotzdem. Ich bin sogar der Meinung, dass die „Akademie 2050“ eine neue Arbeit erfinden kann, wie die aussieht, so weit bin ich noch nicht, aber vielleicht gibt es neue Annerkennungssysteme in der Beziehungsarbeit, der Erziehungsarbeit, der Eigenarbeit etc. Auf jeden Fall wird es in der Akademie eine Arbeit geben, die die herkömmliche Erwerbsarbeit und den Zustand der Arbeitslosigkeit transzendiert.

Wenn wir jetzt damit anfangen, werden die nächsten 50 Jahre vielleicht ganz schön.

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