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Panorama: In Worte fassen

Hieronymus Lorm brachte Taubblinden eine eigene Sprache bei

Als er 16 Jahre alt ist, wird es still in seiner Welt. Als er 20 Jahre alt ist, kommt die Dunkelheit. Hieronymus Lorm wird taubblind. Seine körperliche Situation, das war „eine doppelte Chinesische Mauer“, hat er damals gesagt, schier unüberwindbar. Scheinbar.

Lorm hat seine eigene Sprache entwickelt, eine Sprache, die er fühlen und seine Familie verstehen kann: Er lässt die Hände sprechen. Durch tippen, streichen und trommeln auf der Handfläche und den Fingerspitzen wird eine Verständigung möglich. Seine Tochter Marie schreibt die Zeichensprache ihres Vaters auf und veröffentlicht sie wenige Jahre nach seinem Tod.

Hieronymus Lorm starb mit 81 Jahren am 3. Dezember 1902 – heute vor 100 Jahren. Seine Zeichensprache ist noch immer für taubblinde Menschen die einzige Chance, mit ihrer Umwelt Kontakt aufzunehmen. „Vor der Lorm-Sprache haben Taubblinde ein erbärmliches Dasein geführt, hilflos und abgeschieden“, sagt Volker Lenk, Sprecher des Berliner Landesverbandes der Blinden.

In Deutschland leben nach Schätzungen des Selbsthilfevereins etwa 3000 Menschen, die nicht hören und sehen können. Sie alle lormen. Und auch weltweit unterhalten sich die Taubblinden nach dem Tastprinzip. Die Hand-Zeichen-Sprache ist einfach zu lernen. Jeder Buchstabe des Alphabets kann durch eine festgelegte Berührung der Hand dargestellt werden (siehe Grafik). Die einzelnen Buchstaben sind nach der Häufigkeit in der deutschen Sprache und der raschen Erreichbarkeit angeordnet. Die Fingerspitzen etwa sind besonders eindeutige und leicht erreichbare Punkte. Deshalb sitzen hier die Vokale: Auf die Daumenspitze tippen bedeutet „A“, auf die Zeigefingerspitze „E“, auf die Mittelfingerspitze „I“, auf die Ringfingerspitze „O“ und auf die Spitze des kleinen Fingers „U“. Ein „Q“ darzustellen, ist da schon etwas schwieriger: ein langer Strich nach oben am Außenrand der Hand – aber „Q“ ist selten im Deutschen. „Natürlich dauert eine gelormte Unterhaltung wegen der Buchstabe für Buchstabe in die Hand getasteten Worte länger als eine gesprochene“, sagt Lenk. Aber mit ein wenig Übung könne so schnell gelormt werden, dass ein mit mäßiger Geschwindigkeit geführtes Gespräch möglich ist.

Noch ist die Lorm-Zeichensprache keine staatlich anerkannte Sprache. Auch wurde erst im vergangenen Jahr ein Bundessozialgesetzbuch verabschiedet, das als Basis für die Regelung der grundsätzlichen Belange Behinderter dienen soll. An Details fehlt es aber noch. „An den einzelnen Verordnungen wird derzeit gearbeit“, sagt Lenk.

In der Welt der Hörenden und Sehenden gehört Hieronymus Lorm zu den Unbekannten, und auch die Wissenschaft scheint ihn vergessen zu haben: In den wichtigsten Nachschlagewerken über Blinde und Blindheit sucht man seinen Namen vergebens.

Beratung finden Taubblinde beim Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin, Tel. 030 - 895 880. Hier sind Lorm-Handschuhe aus Stoff mit dem Aufdruck der Berührungspunkte erhältlich.

Dagmar Rosenfeld

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