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Sue Carstairs behandelt die Wunden einer Schildkröte, die überfahren wurde.

© Gerd Braune

Kanada: In der Schildkröten-Klinik

Vielen Schildkröten droht auch vom Menschen Gefahr: In Kanada hilft das „Ontario Turtle Conservation Centre“ Hunderten bei Unfällen verletzten Tieren.

Vorsichtig nimmt Diana Morrison die Schildkröte aus dem Wasserbecken. „Das ist Andrea, unser Liebling.“ Andrea ist eine amerikanische Sumpfschildkröte. Ihr Panzer ist gelb gefleckt. Sie hat den Kopf eingezogen. „Andrea wurde von einem Auto überfahren. Sie verlor ihr rechtes Auge. Auf dem linken Auge kann sie kaum etwas sehen. Ihr Panzer war zerbrochen. Sue, unsere Tierärztin, hat ihn zusammengeflickt.“ Die Schildkröte überlebte, aber in freier Natur hätte das Tier keine Chance. Und so bleibt Andrea im „Schildkrötenkrankenhaus“ – dem „Ontario Turtle Conservation Centre“ mit seinem angeschlossenen „Kawartha Turtle Trauma Centre“ in Selwyn bei Peterborough, 150 Kilometer nordöstlich von Toronto.

Vor Sue Carstairs liegt eine Zierschildkröte auf dem OP-Tisch. Ein Riss zieht sich durch den Panzer. Auch dieser kleine Patient wurde von einem Auto überfahren. Carstairs nimmt einen Bohrer zur Hand. Vorsichtig bohrt sie am Panzerrand, wo sie keine Weichteile verletzen kann, Löcher in die einzelnen Teile. Dann führt sie Draht durch die Löcher, schiebt den Panzer wieder zusammen und stabilisiert ihn mit Draht. Auf dem Panzerrücken, durch den sie nicht bohren kann, fixiert sie die Teile mit Pflaster und Klammern. Bei den meisten Behandlungen geht es darum, zerbrochene Panzer zusammenzufügen. 20 Operationen an einem Tag sind keine Seltenheit.

Neben Zierschildkröten leben in Ontario sieben weitere heimische Arten. Auf den „Roten Listen“ werden sie als bedroht, gefährdet oder potenziell gefährdet geführt. Täglich werden verletzte Tiere in die Klinik gebracht – aus ganz Ontario. In diesem Jahr waren es besonders viele. 890 Patienten wurden bisher gezählt. Wegen des langen feuchten Sommers, der sich bis in den Oktober erstreckt, werden sogar jetzt noch verletzte Schildkröten gebracht. „Das ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise haben sie sich zu dieser Zeit bereits zurückgezogen“, sagt die Ärztin. Viele Tiere hätten dramatische Verletzungen. „Sie werden von Autos überfahren, von Motorbooten verletzt, sie verschlucken Angelhaken oder werden von Hunden gebissen“, sagt Carstairs. Seit 30 Jahren ist sie Tierärztin, seit 2009 in Selwyn.

Das Schildkrötenzentrum wird durch Spenden finanziert. Dicht an dicht stehen blaue und graue Plastikwannen mit den Patienten auf dem Fußboden oder in Regalen. „70 Prozent der Tiere, die uns gebracht werden, können wir wieder in der Natur aussetzen“, sagt Carstairs. „Jedes einzelne Tier ist so wichtig.“ Denn: Bei Schildkröten dauert es viele Jahre, bis der Kreislauf der Natur ein getötetes Tier ersetzt. Weibchen legen zwar jedes Jahr viele Eier, zehn bis 20, alte Schnappschildkröten bis zu 60. „Aber weniger als ein Prozent der Eier führt zu einem Tier, das das Erwachsenenstadium erreicht.“ Es dauert rund 20 Jahre, bis eine Schildkröte selbst Eier legt. Besonders lang ist der Zyklus bei den Schnappschildkröten. Statistisch werden 1500 Eier benötigt, und es dauert 59 Jahre, um eine weibliche Schnappschildkröte in der Natur zu ersetzen.

In Räumen neben dem OP arbeiten Sunaina Aiyer und Emmalene Findley. Sunaina lässt frisches Wasser in die Becken. Alle zwei Tage wird das Wasser gewechselt, und die Tiere werden gewogen. Sie werden mit Würmern, zerschnittenem Fisch und Salat oder Schildkrötenfutter in Pelletform gefüttert. „Eine Schildkröte legt Eier“, ruft Sunaina plötzlich. In einer Wanne liegt eine Schnappschildkröte, neben ihr im Wasser sind elf weiße Eier. Vorsichtig nimmt Emmalene sie heraus. Sie werden in einen Behälter mit Streu gelegt. Emmalene nummeriert jedes Ei.

Operationen nimmt die Ärztin nur in Ausnahmefällen vor

In Inkubatoren oder Containern in Regalen befinden sich insgesamt rund 3000 Eier. Weil Feuchtgebiete verschwinden, legen Schildkröten oft Eier in den sandigen Boden neben Straßen. Die werden dann häufiger bei Straßenbauarbeiten gefunden. „Wir haben kürzlich an einem Tag rund 1000 Eier bekommen“, sagt Diana Morrison. Aber auch in der Klinik legen viele Tiere ihre Eier.

Ein Kurier trifft ein und reicht Carstairs einen Karton. „Das sieht böse aus“, sagt die Ärztin. In der Kiste liegt ein Tier, dessen Panzer völlig zersplittert ist. Es blutet. Vorsichtig berührt Carstairs die Beine, begutachtet den Kopf. Dann muss sie feststellen: „Da ist nichts mehr zu machen. Sie ist vermutlich schon tot.“

Diese Schildkröte wurde mit Pflastern versorgt.
Diese Schildkröte wurde mit Pflastern versorgt.

© Gerd Braune

Aber meist kann sie helfen. Wie im nächsten Fall. Carstairs begutachtet Röntgenaufnahmen. Bei diesem Patienten erkennt sie zwei Angelhaken. „Dieser Eingriff ist ziemlich schwierig. Ich versuche, die Haken durch das Endoskop aus Rachen oder Speiseröhre zu entfernen. Im schlimmsten Fall muss ich sie durch Bauchhöhle oder den Darm herausoperieren.“ Solche Operationen nimmt die Ärztin nur im Ausnahmefall vor. Sie setzt auf die Selbstheilung der Natur, die sie medikamentös unterstützt.

Mindestens acht bis zwölf Wochen bleiben Tiere nach einer Operation im Krankenhaus. Die Ärztin kniet auf dem Boden zwischen Wannen mit Patienten. Vorsichtig entfernt sie das Pflaster vom Panzer einer Schnappschildkröte. Zum Vorschein kommt das rote Innere des Tieres. Auch diese Schildkröte wurde von einem Auto überfahren, der Panzer wurde ihr an mehreren Stellen weggerissen. „Diese Schildkröte hat starke Schmerzen. Sie erhält ein synthetisches Opioid.“ Carstairs tupft die Wunde vorsichtig ab und legt einen neuen Verband an.

In einem Garten mit Freigehegen informiert das Zentrum über den Schutz von Schildkröten und ihre Bedeutung für das Ökosystem. Sie fressen kranke Fische, verwesende Tiere und Pflanzen, halten Wasserwege offen – oder sind selbst Futter für andere Tiere. „Wir müssen Feuchtgebiete schützen. Wir müssen bei der Bauplanung Rücksicht auf Schildkröten nehmen. Wir müssen Tunnel bauen, durch die sie Straßen unterqueren können, und Zäune, die zu diesen Tunnels führen.“ Auch Angler und Bootsfahrer müssen aufgeklärt werden, dass sie mit ihren Motoren oder Angelhaken Tiere verletzen können. Und immer noch würden Schildkröten gefangen und im Tierhandel angeboten, obwohl dies verboten ist. „Information ist der beste Weg, Schildkröten vor dem Aussterben zu bewahren“, sagt Carstairs.

„Wir können als Krankenhaus Soforthilfe leisten. Wenn aber jemand einer Schildkröte hilft, eine Straße zu überqueren, tut er mehr für die Erhaltung des Bestandes, als ich im Krankenhaus tun kann.“ Dann kehrt sie zurück an den OP-Tisch. Der nächste Patient wird eingeliefert.

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