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Panorama: Karneval: Damit der Partner nicht geküsst wird

Der Gedanke an den bevorstehenden Karneval treibt Joao den Schweiß auf die Stirn. Während der "tollen Tage" würde der 30-jährige Buchhalter seine Freundin am liebsten zu Hause in Rio einsperren.

Der Gedanke an den bevorstehenden Karneval treibt Joao den Schweiß auf die Stirn. Während der "tollen Tage" würde der 30-jährige Buchhalter seine Freundin am liebsten zu Hause in Rio einsperren. "Da das nicht geht, fahren wir in die Berge", sagt der Brasilianer. Wie Joao halten es am Zuckerhut Hunderttausende, die nicht möchten, dass der Partner im Trubel von Wildfremden geküsst oder angefasst wird. Das Karnevals-Motto "Ninguem e de Ninguem" (Niemand gehört Niemandem) wird wörtlich genommen.

Die meisten "Karnevalsflüchtlinge" gehören in Rio der Ober- oder der Mittelklasse an. Die Reichen vergnügen sich in geschlossener Gesellschaft auf Bällen in Luxushotels, während die vielen Millionen Armen die wahren Hauptdarsteller der "größten Party der Welt" sind. "Karneval gibt mir das Gefühl, dass mir die Stadt für ein paar Tage gehört", sagt der Bote Fernando (22). Unter seinem Teufelskostüm will er seine Sorgen für einen Moment vergessen.

Himmel und Hölle rücken aber beim Karneval in Rio nicht nur in den Gefühlen von Joao und Fernando zusammen. Die Tourismus-Behörde jubelt, weil die Zahl der ausländischen Besucher in diesem Jahr von 310 000 auf 350 000 ansteigen wird. Die Gesundheits- und Sicherheits-Behörden dagegen zittern. Die Ersten, weil die Zügellosigkeit des Karnevals die Zahl der HIV-Infektionen und der Verkehrsunfälle in die Höhe schraubt. 22 Millionen Kondome sollen kostenlos verteilt werden, eine sechs Millionen Mark teure TV-Aufklärungsaktion wurde von der Kirche kritisiert, weil "sie Sex mit Unbekannten bei Kondombenutzung als normal hinstellt".

"Solange es in Brasilien Karneval und Fußball gibt, wird es hier nie eine Revolution geben, das ist doch ein ewiger Orgasmus", sagte einmal der weltberühmte peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa bei einem Rio-Besuch in einer Mischung aus Bewunderung und Kritik. Karneval ist aber nicht nur "Opium fürs Volk". Der 18-jährige Ingor ist einer von 800 jungen Menschen, die nach einem Alphabetisierungskurs des Staates Rio an die so genannten Sambaschulen weitervermittelt wurden. Nun hämmert und sägt er in der alten Werkhalle im Norden Rios. In den Nächten zum Montag und Dienstag wird der große Umzug der 14 Sambaschulen sein, und seine Imperatriz Leopoldinense will den im Vorjahr gewonnenen Titel verteidigen. Dafür hat Imperatriz umgerechnet etwa 1,8 Millionen Mark ausgegeben. Hunderte haben monatelang gegen die Uhr genäht, gemalt und geschnitten. "Die Arbeit für die Sambaschule hat mich von der Straße und den Drogen weggeholt", sagt Ingors Freund Roberto.

Jede der 14 Sambaschulen der "Ersten Liga" beschäftigt das ganze Jahr über zwischen 150 und 300 fest angestellte Mitarbeiter zur Vorbereitung der Karnevalsparade. Oft organisieren sie daneben mit dem im Karneval eingenommenen Geld Gratiskurse, in denen Lesen und Schreiben, Informatik, Sprachen, Marketing und natürlich auch "Karnevalswissenschaften" vermittelt werden. Sie übernehmen zudem Sozialdienste wie die medizinische Betreuung älterer Menschen. Dafür muss der Karneval aber auch ein gutes Geschäft bleiben.

Joao freut sich derweil auf die Ruhe in den Bergen. Bei allem Karnevalshass hat auch er seine Lieblings-Sambaschule.

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