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© privat

Kolleg-Schüler: "Er hat einen nie wirklich angefasst"

2004 schrieb ein Ex-Schüler ein Buch über sexuelle Vergehen im Internat – jetzt wird er ernst genommen.

Berlin - Es ist eine schwierige, manchmal quälende Frage: Wann fängt Missbrauch an? Auf dem Aloisiuskolleg, einem Jesuiteninternat in Bonn, begann er jeden Morgen um 6.20 Uhr. Die Erzieher weckten die Internatsschüler und scheuchten sie in die düsteren Kellerkatakomben, zum Duschen. Während sich die Jungen im Vorraum entkleideten, saß der Rektor der Schule auf seinem Hocker, den dunkelblauen Bademantel leicht geöffnet, nichts darunter. Zum Abschluss des Duschens nahm er einen gelben Schlauch und spritzte die nackten Kinder mit kaltem Wasser ab. „Wenn der eisige Strahl auf deine Brust prallte, blieb dir fast der Atem weg“, schreibt Miguel Abrantes Ostrowski. „Man hatte den Eindruck, für ihn war das höchster Lustgewinn.“

Bis 1993 war Abrantes Internatsschüler auf dem Aloisiuskolleg, 2004 erschien sein Buch „Sacro Pop – Ein Schuljungenreport“, in dem er schon damals Missbrauchsfälle auf dem Internat beschrieb. Nun, nachdem sechs Jahre später mehr als 100 Missbrauchsfälle an Jesuitenschulen bekannt wurden, erhält sein Buch eine späte Aufmerksamkeit.

Abrantes ist mittlerweile Schauspieler. Gerade noch stand er auf der Bühne des Maxim-Gorki-Theaters, als der Jesuit Naphta in Thomas Manns „Der Zauberberg“. Nun sitzt er in einem Restaurant, das den Namen der zwölf Apostel trägt. „Es ist schwierig, sich zu konzentrieren – als ob draußen ein Erdbeben wäre und wir sagen: Komm, wir spielen jetzt Theater“, sagt der 37-Jährige.

Sieben Jahre ist es her, dass er sich abends nach Vorstellungen hinsetzte, um seine Erinnerungen an die Internatszeit aufzuschreiben. Doch erst jetzt entfaltet die Mine, die in dem Kapitel „Die guten Hirten“ gelegt war, ihre volle Wirkung. Dort beschreibt Abrantes die Erziehungsmethoden im Bonner Jesuiteninternat: Auf 25 Seiten berichtet er von Aktfotografie, Fiebermessen im Po, Bestrafungen und Züchtigungen durch zwei Geistliche, die er „Pater Knoop“ und „Pater Steinfels“ nennt. Der eine trat vor zwei Wochen als Schulleiter zurück, der andere liegt heute 82-jährig in einem Altersheim.

Abrantes lernte den damaligen Schulleiter Steinfels im Sommer 1983 kennen. Der Elfjährige hatte Probleme in der Schule: Er war faul. Mit seiner Mutter klapperte der kleine Miguel die Internate der Gegend ab. Der Junge sollte Disziplin beigebracht bekommen, Abitur machen. Im Aloisiuskolleg in Bonner Ortsteil Bad Godesberg wurden sie fündig.

Schulleiter und Religionslehrer Steinfels war ein stämmiger Mann mit grauem Vollbart, schreibt Abrantes, ein Mannsbild mit der Aura eines Sean Connery in dem Film „Der Name der Rose“. Seine Mutter sei wie viele Mütter ein wenig verliebt in ihn gewesen. Steinfels habe sich bewusst Jungen angenähert, deren alleinerziehende Mütter überfordert waren und denen eine Vaterfigur fehlte, sagt der Schauspieler heute. Damals nahm Steinfels die Hand des Jungen, schaute auf die abgekauten Nägel und sagte: „Das kriegen wir auch noch hin.“

Das Schlossinternat mit 800 Schülern und Blick auf das Siebengebirge und Rheintal war ein eigenes Reich mit eigenen Regeln. Ein durchorganisierter Tagesablauf, mit strengen Vorschriften und harten Strafen. Wer auf dem Flur rannte, musste eine halbe Stunde stehen bleiben und auf eine Wanduhr starren. Wer nachts auf dem Zimmer quatschte, musste die ganze Nacht Gedichte auswendig lernen. Durch Drill disziplinierte die Schule die Elite von morgen: Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière, Haribo-Gründer Hans Riegel oder TV-Moderator Stefan Raab waren einst Jesuitenschüler in Bad Godesberg. „Das Perfide, das Schizophrene daran ist, dass ich Steinfels und Knoop eine Menge zu verdanken habe: Disziplin, Pünktlichkeit, sich auf Dinge zu fokussieren“, zählt Abrantes auf.

Doch das System der Gehorsamkeit hatte auch eine andere Seite, es war der Nährboden für Missbrauch. Heute wird Kindern beigebracht, sie müssten sich trauen, „nein“ zu sagen. In dem Internat war das damals undenkbar. So traute sich keiner der Jungen zu widersprechen, als Steinfels sie zum Fiebermessen in sein Büro bestellte. „Er war ein leidenschaftlicher Fiebermesser“, sagt Abrantes spöttisch. Ironie und Sarkismus sind seine Art, mit dem Erlebten umzugehen – sein Buch trieft davon. Ein Grund, warum es damals wenige ernst nahmen.

Auch ihn habe Steinfels einmal zu sich bestellt, berichtet Abrantes: Dort musste sich der kleine Miguel auf eine schwarze Liege legen. Steinfels zog ihm die Pyjamahose hinunter und steckte ihm das kalte Thermometer in den Po.

„Er hat einen nie wirklich angefasst, es war immer diese Grauzone“, sagt Abrantes. Deswegen sei lange nichts herausgekommen. „Im Zweifelsfall hätte Steinfels sich immer herausreden können: Kalt abduschen ist doch gut für das Immunsystem, Fiebermessen im Po ist doch genauer als unter der Achsel.“ Genau wie die Aktfotos, die er von Kindern im Park machte – für das Jahrbuch, offiziell.

Doch Miguel sagte nichts, wie seine Mitschüler. „Ich fühlte mich nicht missbraucht, diese Einsicht kam erst später“, erinnert er sich. „Man fühlte sich sogar ein wenig privilegiert: Der Schulleiter schenkt einem Aufmerksamkeit, man musste zwei Stunden nicht lernen.“

Auch heute will sich Miguel Abrantes Ostrowski nicht als Opfer fühlen. „Ich sehe mich eher als Vermittler“, sagt der 37-Jährige. „Ich bekomme viele Anrufe von Mitschülern und Betroffenen, die fragen, wie sie sich nun verhalten sollen.“ Abrantes hatte Glück. Er entdeckte das Schultheater, die Freiheit der Bühne. „Dort konnte ich Sachen sagen“, erinnert er sich, „für die ich im Internat eine Ohrfeige bekommen hätte.“ Und irgendwann schrieb er sie auf.

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