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Panorama: Missbraucht und verkauft

In Angers stehen 66 Kinderschänder vor Gericht

Die westfranzösische Stadt Angers ist in diesen Tagen Frankreichs Schauplatz für Albträume, Entsetzen und Trauer. Dort, wo im Sommer normalerweise Touristen fröhlich in der Altstadt bummeln, begann am Donnerstag der bislang größte Pädophilenprozess der französischen Justizgeschichte, ja das umfangreichste Gerichtsverfahren überhaupt, denn vor Gericht stehen nicht weniger als 66 Angeklagte, 39 Männer und 27 Frauen. Sie müssen sich wegen Vergewaltigung, Inzest, Prostitution und Zuhälterei verantworten. Opfer waren zwischen 1999 und 2002 mindestens 45 Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und zwölf Jahren.

Das Gerichtsverfahren gegen die Beschuldigten sprengt alles, was Frankreich bislang gesehen hat: Um die 66 Angeklagten überhaupt dem Richter vorzuführen, musste für eine Million Euro eigens ein 360 Quadratmeter großer Saal gebaut werden. Die auf 430 Seiten festgehaltenen Enthüllungen und Ausführungen über den Wahnsinn, der sich drei Jahre lang im familiären Umfeld der Minderjährigen in einem sozial heruntergekommenen Vorort der Stadt abspielte, sind so schlimm, dass zu dem Prozess nur die Presse zugelassen ist. Um Nervenzusammenbrüche bei den Juroren und ihren Beigeordneten zu verhindern, sind Psychologen zugezogen worden.

Im Mittelpunkt der Anklage stehen zwei Angeklagte: Franck V. und seine Frau Patricia, beide um die 30 Jahre alt, Sozialhilfeempfänger, die weder lesen noch schreiben können. Sie haben vier Kinder und wohnen in einem der typischen französischen Vororte, wo in billigen Betonburgen versteckte Gewalt und Anonymität zu den bestimmenden Faktoren gehören. Selbst nach Bekanntwerden der Horrorgeschichten, die sich in der Wohnung des Paares mit fast täglichen Besuchen von „tätowierten, schwitzenden Onkeln und Tanten“ abspielten, behaupten Menschen, die sich in unmittelbarer Nähe befanden, „nichts gesehen und gewusst“ zu haben. Im Verfahren wird aber auch eine Rolle spielen, warum den Sozialdiensten, die die Familien wegen Alkoholmissbrauchs, Arbeitslosigkeit, mangelnder Hygiene und anderer Probleme regelmäßig besuchten, nichts auffiel.

Die von Kennern der Gerichtsakten als „unglaublich“, „widerlich“ und „abstoßend“ beschriebenen Fakten bezeugen, dass die Kinder der Familien unter den Erwachsenen regelrecht verkauft wurden – für eine Stange Zigaretten, Lebensmittel oder einen kleinen Geldbetrag. Auf diese Weise haben sich die Beschuldigten, so die Untersuchungsrichterin Virginie Parent, „ein Zubrot zur Sozialhilfe verdient, bis zu 300 Euro in der Woche“. Aufgeflogen ist die grauenvolle Affäre durch drei in der Kinderschänderbande aktive Männer, die wegen sexueller Delikte bereits vorbestraft waren und deshalb unter polizeilicher Beobachtung standen.

Sabine Heimgärtner[Paris]

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