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Zu allem entschlossen. Die in den Minen Südafrikas ausgebeuteten Arbeiter tanzen und singen sich in Trance, bis sie keine Angst mehr haben.

© REUTERS

Panorama: Mit dem Zauber als Waffe

Die streikenden Minenarbeiter in Südafrika rannten in den Kugelhagel, weil ein Wunderheiler ihnen Unverwundbarkeit versprach.

Der kleine Hügel über der Platinmine von Marikana liegt da wie ein Mahnmal. Jeden Tag beten die streikenden Bergarbeiter auf dem blanken Fels, der weithin sichtbar aus dem trockenen Buschfeld ragt, für jene 34 Kumpel, die an dieser Stelle von der südafrikanischen Polizei erschossen wurden. Die Bilder der mit Macheten, Knüppeln, Speeren und wohl auch Schusswaffen ausgerüsteten Bergleute und ihr fast selbstmörderisch anmutendes Vorrücken auf eine Phalanx schwer bewaffneter Polizisten haben sich tief in die Psyche des Landes eingebrannt – und vielerorts Fragen nach der Verantwortung und den Umständen des Blutbades aufgeworfen.

Dass es zu einer solch blutigen Eskalation kommen konnte, hat auch mit der schlechten Ausbildung der vielen jungen Polizisten zu tun, die der gefährlichen Situation nicht gewachsen waren und um das eigene Leben bangten. Schließlich hatten die Minenarbeiter zuvor bereits zehn Menschen umgebracht, darunter zwei Polizisten und zwei Wachleute eines Sicherheitsdienstes. Ein weiterer wichtiger Grund für die Eskalation der Lage wird hingegen oft nicht erwähnt. Es ist der Gebrauch von „Muti“, traditioneller afrikanischer Medizin aus Pflanzen oder Tierteilen, die in ganz Afrika weit verbreitet ist und die den Menschen außergewöhnliche Kräfte und Fähigkeiten verleihen soll – im Fall der Minenarbeiter eine angebliche Unverwundbarkeit gegen die Kugeln der Polizei. Verabreicht wird die Medizin von einem traditionellen Heiler, dem sogenannten Sangoma. Ein solcher Medizinmann war auch zu der bestreikten Platinmine westlich von Johannesburg gebracht worden, um dort ein Muti-Ritual zu veranstalteten. Dies könnte erklären, warum viele Arbeiter mit schier unfassbarem Mut auf die schwer bewaffneten und zum Schießen entschlossenen Polizisten zumarschierten – und alle Warnungen ignorierten. Nach Aussagen von Teilnehmern an dem Ritual soll der Sangoma versprochen haben, dass sie durch das Muti für die Polizei entweder unsichtbar oder dass sich die Kugeln der Sicherheitskräfte in Wasser auflösen würden, was den Einsatz von Wasserwerfern völlig kontraproduktiv machte.

Inzwischen haben mehrere Seiten, darunter die Arbeiter selbst, bestätigt, dass ein Großteil der auf dem Hügel versammelten Männer kurze Zeit vor der Konfrontation mit der Polizei an einem Muti-Ritual teilgenommen habe. Die Johannesburger „Sunday Times“ zitiert Senzeni Zokwana, den Präsidenten der mächtigen Gewerkschaft „National Union of Mineworkers“ (NUM) mit der Aussage, jeder Streikende habe dem Sangoma 500 Rand gezahlt und sei dafür mit sogenanntem „ntelezi“ beträufelt worden. Im Rahmen des Rituals habe der Heiler den Arbeitern dann mit einer Rasierklinge die Haut eingeritzt und das Muti, eine braune Tinktur, in die blutende Wunde geschmiert. „Nach der Gabe des Muti waren die Behandelten extrem aggressiv“, erzählt Bergmann Bulelani Malawana. „Viele wollten einfach nur kämpfen, weil sie sich nun unbesiegbar fühlten.“ Der Sangoma selbst habe den Arbeitern geraten, bei einer Konfrontation mit der Polizei nie zurückzuschauen, sondern immer nur nach vorne zu gehen. Wer zurückschaue, so habe er gewarnt, würde dem Muti seine Kraft nehmen.

Ein hochrangiger Polizist erzählte der „Sunday Times“, dass die Sicherheitskräfte das auf den Felsen vollzogene Muti-Ritual aus dem Hubschrauber heraus gefilmt hätten. „Die Arbeiter standen alle in einer Reihe und wurden nacheinander mit dem Muti beträufelt.“ Offenbar hätten sie die beiden Felshöcker als einen heiligen Platz betrachtet. Frauen hätten während der ganzen Zeit nicht in die Nähe der Felsen gedurft, weil ihre Präsenz die Kraft des Muti gemindert hätte.

Wie tief der Glaube an die Kraft traditioneller Medizin gerade bei vielen Minen- und Farmarbeitern sitzt, lässt sich daran ablesen, dass ein Großteil der Überlebenden selbst nach dem Blutbad noch immer fest an die Wirkung des Muti glaubt. Die meisten scheinen noch immer überzeugt davon zu sein, dass ohne das Muti-Ritual noch mehr Menschen bei der Schießerei ums Leben gekommen wären. Wer mit der Flüssigkeit beträufelt worden und dennoch ums Leben gekommen sei, hätte eben irgendetwas falsch gemacht und die Wirkung des Muti geschwächt, heißt es.

Westliche Korrespondenten ignorieren Muti-Rituale häufig, weil sie ihnen fremd sind und weil viele befürchten, durch eine Darstellung des Aberglaubens ein abschätziges Bild von Afrikanern zu geben, wie es die Kolonialisten getan haben. Dabei werden diese Themen in südafrikanischen Zeitungen schon lange offen debattiert. Magisches Denken gehört in den meisten afrikanischen Ländern zum Alltag.

Der Gebrauch traditioneller Medizin aus Kräutern oder Knochen ist eine weit verbreitete Praxis auf dem Kontinent. Bei Fußballspielen werden oft Trikots oder Schuhe eines Teams vor dem Spiel in eine spezielle Tinktur getaucht. Zudem erhoffen sich viele durch Muti Heilung von Krankheiten, die von Hautausschlägen und Potenzstörungen bis hin zum Kurieren von Aids reichen. Viele glauben, dass die jeweilige Krankheit oft aus einem Mangel an Respekt gegenüber den Vorfahren herrührt, die deshalb keine Heilkraft spenden.

In den vergangenen Jahren haben die traditionellen Heiler ständig an Zulauf gewonnen. Tausende Südafrikaner verdienen inzwischen als Sangoma ihren Lebensunterhalt und verkaufen nebenher die Rohstoffe ihrer Tätigkeit wie etwa Innereien, Rinden, Kräuter, Knochen oder Wurzeln. Zu den besonders begehrten Pflanzen gehören dabei Knollen wie die Pfefferrinde oder der wilde Ingwer. Anders als zu Apartheidzeiten können die Heilerinnen und Heiler ihr Gewerbe heute offen praktizieren. Immer mehr Unternehmen, wie etwa der Stromkonzern Eskom oder die Telefongesellschaft Telkom, offerieren ihren Angestellten im Rahmen einer Krankenversicherung sogar den bezahlten Besuch beim Sangoma.

Experten beziffern den Anteil der schwarzen Südafrikaner, die regelmäßig einen Sangoma aufsuchen, auf 80 bis 85 Prozent. Die Vereinigung der Traditionellen Heiler, wie sich die Gilde neusüdafrikanisch selber nennt, zählt eigenen Angaben zufolge mehr als 200 000 Mitglieder. Dabei beschränkt sich ihre Klientel keineswegs auf Analphabeten vom Lande. Selbst Akademiker konsultieren vor dem Gang zum Schulmediziner oft erst einmal einen Sangoma.

Daraus spricht Misstrauen in die die westliche – koloniale – Medizin, die der frühere südafrikanische Präsident Thabo Mbeki auch dadurch zum Ausdruck brachte, dass er öffentlich behauptete, das HI-Virus sei in einem westlichen Labor gezüchtet worden, um die Afrikaner zu zerstören. Eine These, die beispielsweise auch bei der kenianischen Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai verfangen hatte. Es spricht aber auch ein neues afrikanisches Selbstbewusstsein aus der Rückbesinnung auf die traditionelle Medizin. Seit die afrikanische Wirtschaft wächst, und der Kontinent wegen seiner Rohstoffe und seiner jungen Bevölkerungen immer attraktiver wird, wird auch die eigene Kultur wieder mit mehr Überzeugung vertreten. Und dazu gehört auch die traditionelle Medizin.

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