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Sympathisant. Der Oberhirte von St. Paul’s, Graeme Knowles, trat zurück. Foto: AFP

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Panorama: Mit Gott gegen die Banken

London hat den Demonstranten vor der St.-Paul’s-Kathedrale ein 48-Stunden-Ultimatum gestellt

Jesus, der die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb, hätte die Demonstranten bestimmt in die Wärme der Kirche eingeladen, die seit über zwei Wochen beim Hauptportal der St.-Paul’s-Kathedrale die Unmoral der kapitalistischen Finanzwelt anprangern. Das glauben nicht nur die Demonstranten, die sich gestern im Protest gegen ihre bevorstehende Vertreibung auf den Stufen zum machtvollen Säulenportikus der Londoner Zentralkirche versammelten und Spruchbänder hochhielten. Darauf stand die Frage: „Was würde Jesus tun?“

Gestern stellte die City of London – mit klarer Billigung der Kathedrale, die sich mit ihr das besetzte Grundstück teilt – den Londoner Besetzern ein Ultimatum. Sie sollen den Platz in 48 Stunden räumen und ihre 225 Zelte abbauen, sonst werde eine gerichtliche Verfügung beantragt – eine gewaltsame Räumung ist dann nicht ausgeschlossen. „Die Uhr tickt“, sagte ein City-Beamter.

„Wir tun niemandem weh und beleuchten wichtige Fragen“, kommentierte die Leitung des „Occupy London“-Lagers. Demonstranten gelobten, bis zuletzt zu bleiben. „Und wenn wir vertrieben werden, werden wir innerhalb einer Stunde woanders sein“, sagte ein Demonstrant. Der Bischof von London, Richard Chartres, der dritthöchste Geistliche der anglikanischen Kirche, kam im roten Habit und flehte die Demonstranten vor der Kirche an, freiwillig zu gehen. „Nichts kann die wichtigen Fragen, die ihr so leidenschaftlich aufgeworfen habt, so in den Schmutz ziehen wie Gewalt“, warnte er. Es sei Zeit für die Demonstranten zu gehen, bevor der Streit um die Besetzung die aufgeworfenen Themen völlig verdränge.

Doch viele Geistliche der „Church of England“ glauben, die Kirche sei zu mehr Solidarität mit den Demonstranten verpflichtet. Kaum war die Order zur Räumung ausgegeben, trat der Oberhirte der Kathedrale, Dekan Graeme Knowles zurück. Es ist bereits der dritte Geistliche, der an dem Konflikt scheitert, der im siebenköpfigen Domkapitel um die Besetzung ausgetragen wird. Erster Märtyrer von „Occupy London“ war Kanonikus Giles Fraser. Er hatte zu Beginn der Besetzung die Polizei weggeschickt, die St. Paul’s bewachen wollte und den friedlichen Protest in einer Predigt gelobt. Er war entsetzt, als beschlossen wurde, die Kathedrale eine Woche lang zu schließen. Als er schließlich zurücktrat, warnte er vor „Gewalt im Namen der Kirche“.

Aber was für Differenzen wirklich ausgetragen wurden, erfuhr man am Sonntag, als Fraser im „Independent“ auspackte: St. Paul’s unterdrückte einen Bericht seiner Forschungsabteilung „St. Paul’s Institute“ zur Moral der Banker, der am 27. Oktober veröffentlicht werden sollte. 500 Banker und Arbeiter des Londoner Finanzbezirks wurden zu ihrer Bereitschaft befragt, für die Finanzkrise moralische Verantwortung zu tragen – offenbar mit verheerendem Ergebnis. Die Veröffentlichung wurde unterdrückt, um nicht noch mehr Öl ins Protestfeuer zu gießen. Damit habe die Kirche ihren Ruf „für eine Generation“ beschädigt, so der frühere Berater des Erzbischofs von Canterbury.

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