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Pascall-Prozess: In Zweifelhaft

150 Verhandlungstage, 300 Zeugen, 12 Angeklagte: Die Verhandlung um den kleinen Pascal war eine der spektakulärsten in der deutschen Rechtsgeschichte. An diesem Freitag hat das Landgericht Saarbrücken geurteilt. Spätestens jetzt steht fest: Der Prozess hat die Justiz an ihre Grenzen gebracht.

Die Tosa-Klause, diese Schmuddel- Kneipe, war schon immer ein Fremdkörper, selbst im nicht ganz so feinen Saarbrücker Stadtteil Burbach. Und die, die dort im Schankraum herumgehangen haben, der kaum größer ist als ein Wohnzimmer, waren zumeist Außenseiter, um die die Burbacher Arbeiter einen großen Bogen machten. Heute wünschen viele, dass diese Bude möglichst rasch verschwindet, die nur noch als Vorratsraum genutzt wird für den Hähnchen-Grillwagen, der vor ihr geparkt ist. Nichts mehr soll an all das erinnern, was Jahre mit dem Namen Tosa-Klause verbunden ist. br>Wer der Polizei und der Staatsanwaltschaft vertraut hat, der war vor drei Jahren der festen Überzeugung, dass sich in Saarbrücken-Burbach eines der monströsesten Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik ereignet habe.

Spätestens an diesem Freitag aber, dem Tag des Urteils, steht endgültig fest, dass dieser Prozess vor dem Landgericht in Saarbrücken die Justiz an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gebracht hat. Er hat beinahe unerträglich lange gedauert. Sein Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Ertrag. Alles spricht dafür, dass ein furchtbares Verbrechen geschehen ist, das ungesühnt bleiben wird.

Schuld der Angeklagten ist wahrscheinlich

Der Prozess begann am 20. September 2004. Die Anklage lautete damals, 13 Männer und Frauen - ein Angeklagter ist inzwischen verstorben - seien im September 2001 am sexuellen Missbrauch und an der Ermordung des seinerzeit fünfjährigen Pascal beteiligt gewesen. Gleich mehrere Männer sollen ihn an diesem Kirmes- Sonntag im Nebenzimmer der Kneipe anal vergewaltigt, eine Frau ihn dann mit einem Kissen erstickt haben. Mehr noch: Auch der Sohn einer der Angeklagten sei mehrfach sexuell missbraucht worden. Hinter der Anklage stand der Vorwurf, im Umfeld der Tosa-Klause seien Kindern über längere Zeit hinweg missbraucht worden - zum Tarif von 20 DM, der, wie der Preis der konsumierten Getränke auf Bierdeckeln markiert worden sei. Nun werden nach drei Jahren einer aufwendigen Beweisaufnahme alle zwölf Angeklagten von allen relevanten Vorwürfen freigesprochen. Nur die Hauptangeklagte, die Wirtin Christa W., wird zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Wegen eines Drogendelikts, das mit den anderen Taten nichts zu tun hat.

Es handelt sich freilich um keinen Freispruch erster Klasse. Obwohl das Strafrecht nicht mehr zwischen Freisprüchen mangels Beweisen und wegen erwiesener Unschuld unterscheidet, lassen die Richter keinen Zweifel daran, dass sie die Schuld der Angeklagten für wahrscheinlicher halten als deren Unschuld. Dass bei ihnen aber unüberwindbare Zweifel bleiben, die zum Freispruch führen mussten.

Die Freisprüche sind also, bis an die Grenze des rechtlich noch Zulässigen, eine neue Belastung für die Freigesprochenen. Über eine Stunde lang begründet der Vorsitzende Richter Ulrich Chudoba, weshalb eine Schuld der Angeklagten wahrscheinlich sei: Mehrere der Angeklagten hätten die Taten ausführlich gestanden, ein komplexes Geschehen eindringlich geschildert. So sehr sie sich widersprochen hätten, in ihrem Kern hätten all die Aussagen übereingestimmt.

Alles könnte sich so abgespielt haben, wie die Anklageschrift behauptet

Die Angeklagten hätten dabei sich selbst belastet; eine von ihnen hatte sogar gestanden, den Jungen erstickt zu haben. Es sei schwer vorstellbar, dass dies alles "reine Phantasie" gewesen sei. Die belastenden Aussagen seien spontan gemacht worden, zu einem Zeitpunkt, da die Angeklagten noch nicht von der Polizei suggestiv hätten beeinflusst werden können. Dies hatten die Verteidiger behauptet.

Dass alle Angeklagten ihre Geständnisse später widerrufen haben, ist für die Richter ohne größere Bedeutung. Polizei und Staatsanwaltschaft hätten sorgfältig ermittelt und die Beschuldigten nicht bewusst zu den gewünschten Aussagen gedrängt. Alles könne sich so abgespielt haben, wie die Anklageschrift es behaupte. Eine Stunde lang können sich während der Urteilsbegründung zumindest jene, die die Angeklagten zuvor während der vielen Verhandlungstage nicht selbst erlebt hatten, fragen, weshalb die Richter denn nicht verurteilt haben.

Das begründet Chudoba dann. An erster Stelle nennt er das Fehlen jedes objektiven Beweises. Nicht nur, dass trotz großer Suchaktionen die Leiche von Pascal nicht gefunden worden ist - auch nicht in jener Kiesgrube, wo sie eine der Angeklagten abgelegt haben will. Nicht nur, dass Pascals Fahrrad verschwunden bleibt, mit dem der Junge kurz vor seinem Verschwinden und unmittelbar vor der behaupteten Tat herumgefahren ist. Ein Sachverständiger hat die Matratze, auf der Pascal vergewaltigt und ermordet worden sein soll, genau untersucht. Schicht für Schicht. Er hat keine DNS, kein Haar, kein Blut, keinen Hautpartikel gefunden, nicht von dem Jungen, nicht von seinen angeblichen Vergewaltigern, auch kein Sperma.

Das Video ist nie aufgetaucht

Es wurden auch an anderen Stellen keine Spuren von Pascal gefunden. Nicht in der Tosa-Klause, nicht in dem Auto, in dem angeblich die Leiche transportiert worden ist, nicht in den Wohnungen der Angeklagten. Die Videokamera, mit der Christa W. den Missbrauch gefilmt haben soll, ist nie gefunden worden. Es gibt auch keine anderen, harmlosen privaten Videofilme, wie zu erwarten wäre, wenn die Frau eine Kamera besessen hätte.

Die angeblichen Aufnahmen des Missbrauchs sind bis heute nirgends aufgetaucht, auch nicht im Internet. Das Bundeskriminalamt hat mit automatischen Gesichtserkennungsprogrammen danach gefahndet. Dies sei bemerkenswert, weil mit solchen Aufnahmen viel Geld zu machen sei, sagt der Richter.

Zudem gebe es keine unbeteiligten Zeugen, die die widerrufenen Geständnisse der Angeklagten bestätigt hätten. Es sei aber kaum vorstellbar, dass an dem lebhaften Nachmittag des Kirmes-Sonntags nahe dem Festplatz kein Passant etwas mitbekommen haben sollte von der mehrfachen Vergewaltigung eines Kindes, das angeblich laut geschrien haben soll. Niemand habe sich gemeldet, der in der Nähe der Tosa-Klause Auffälliges bemerkt hätte, der vor einer verschlossenen Türe gestanden hätte oder am Eintritt gehindert worden wäre. Zahlreiche Kneipen-Gäste seien vernommen worden, nicht nur der innere Zirkel der Stammgäste. Es sei schwer vorstellbar, dass alle Zeugen lügen.

Geldgierig und intelligent, aber keine sexuellen Motive

Für völlig ausgeschlossen hält das Gericht den Vorwurf, es habe sich bei den Gästen um eine verschworene Gemeinschaft gehandelt, die über einen längeren Zeitraum hinweg einen systematischen Kindsmissbrauch hingenommen hätte. Kein Arzt, keine Betreuerin, keine Kindergärtnerin hat bei Pascal und dem anderen Jungen, der missbraucht worden sein soll, Hinweise darauf gefunden. Auch Pascals Mutter sagte, der Junge sei unauffällig gewesen. Beim Duschen habe sie keine Verletzungen gesehen. Schließlich, so die Richter, enthielten die widerrufenen Geständnisse etliche Widersprüche, zahlreiche Aussagen hätten sich als falsch erwiesen. Einer der vermeintlichen Vergewaltiger habe zu der Zeit, da er in der Kneipe gewesen sein sollte, Fußball gespielt.

Und zumindest die Hauptangeklagte, die Wirtin Christa W. habe kein Motiv. Sie sei eine intelligente, planende und geldgierige Frau, aber es gebe keinen Hinweis auf sexuelle Motive. Deshalb sei kaum vorstellbar, dass sie das hohe Risiko eingegangen wäre, eine solche Tat zu einer Zeit zuzulassen, wo das Entdeckungsrisiko extrem hoch gewesen sei. Dagegen gebe es durchaus Erklärungen für mögliche Falschaussagen der zeitweilig geständigen Angeklagten. Es handele sich um besonders leicht beeinflussbare Menschen minderer Intelligenz. Einige neigten dazu, sich wichtig zu machen. Die Befragungen der Polizeibeamte seien teilweise zweifellos suggestiv gewesen.

Der perfekte Mord?

Spätestens an dieser Stelle fragt sich der Zuhörer, weshalb das Gericht die von ihm Freigesprochenen noch immer so stark verdächtigt, sie als Menschen vorführt, die man nicht verurteilen konnte, denen man aber alles Böse zutrauen darf. Obwohl doch Chudoba selbst darauf verweist, dass Sympathien und Antipathien beim Urteil keine Rolle spielen dürfen.

Das Schicksal des kleinen Pascal hat dieser Prozess nicht geklärt. Er hat den Blick geöffnet in Abgründe der deutschen Gesellschaft. In Saarbrücken standen Menschen aus einer Parallelwelt vor Gericht. Einer, der sie verteidigen sollte, hat sie als "Deppen" und "Bekloppte" charakterisiert. Er wollte sagen, dass sie zu einem perfekten Mord unfähig seien. Seine Behauptung stimmt so aber nicht. Unter den Angeklagten sind Frauen mit sehr niedrigem Intelligenzquotienten, Menschen, die keine Ausbildung und nie geregelt gearbeitet haben. Es sind aber auch intelligente und durchsetzungsfähige Menschen darunter. Nur einer ist bisher als Gewalttäter aufgefallen. Mehrere tranken, aber nicht so stark, dass es ihre Persönlichkeit verändert hätte. Gemeinsam ist diesen Menschen, dass sie nach bürgerlichen Maßstäben gescheiterte Existenzen sind. Gemeinsam sind ihnen Verwahrlosung und Desozialisierung. Sie lebten in der dunklen Tosa- Klause, wo sie am Ende zwischen Wahn und Wirklichkeit vielleicht nicht mehr unterscheiden konnten.

Stefan Geiger

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