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Reise: Alles im Bollerwagen

Die ostfriesische Insel Baltrum ist nur 6, 5 Quadratkilometer groß. Autos gibt es nicht, Fahrräder nur für Einheimische. Urlauber gehen (gern) zu Fuß

Pech für Peter. Er darf seinen Benz nicht mitnehmen. Brav wie alle anderen Baltrumurlauber muss er seine Karosse am Fährhafen Neßmersiel stehenlassen. Für fast lächerliche vier Euro am Tag. Und auch noch unter einem Carport. Dafür ist das Gefährt nun für eine Woche kaltgestellt. Auf Baltrum gibt’s kein Schaufahren der Nobelkarossen, wie etwa auf Sylt. Ohnehin zeigt ein schweifender Blick über den großen Parkplatz: Vor allem aus familienfreundlichen Kombis werden die Koffer entladen.

Eltern und ihr Nachwuchs stehen staunend an der Kaimauer und versuchen, die Verladelogistik zu begreifen. Dabei ist alles ganz einfach: Das Gepäck wird in Container gestellt. Dann greift sich der Kran der Baltrumfähre einen Behälter nach dem anderen und hievt ihn an Bord. Danach gehen die Gäste die Gangway hinauf. Und schließlich tuckert die Fähre auf einer markierten Rinne durchs Wattenmeer. Zentimeterarbeit ist nötig, sonst endet der erste Urlaubstag auf einer Sandbank. Die Fähre passiert die sandige Ostspitze von Norderney, auf der sich Robben und Seehunde in der Sonne räkeln und den Fährverkehr konsequent ignorieren. Nach einer guten halben Stunde hat das Schiff Baltrums Mole erreicht. Eine künstliche, langgestreckte Landzunge, die weit ins Wattenmeer hineinragt. Dort steht bereits das Empfangskomitee: Insulaner, die dem Schiff entgegenwinken.

Der Schritt an Land ist der Schritt in eine andere Welt. Der Hafenplatz ist übersät mit dem Volkswagen Baltrums, dem Bollerwagen. Und mit Wippen. So heißen die Fahrradanhänger, in denen das Gepäck zu den Ferienwohnungen, Pensionen und Hotels transportiert wird. Dazwischen steht Max, Anfang sechzig wird er sein. Er trägt eine blaue verwaschene Latzhose, Sandalen und unter seinen zerzausten Locken und lebt ein von der Nordseeluft gegerbtes Gesicht. Was für Mittelmeerinseln die Autoverleiher sind, ist für Baltrum Max. Er hat die größte Bollerwagenvermietung der Insel. Wer mobil sein will, der mietet bei Max. Werbeslogan: „Schleppen Sie noch oder bollern Sie schon?“ Bollern kostet zwei Euro am Tag, plus 50 Euro Kaution.

Auch Benz-Peter zieht nun so einen Handwagen hinter sich her. Extrawünsche werden nicht erfüllt – es gibt keine tiefergelegten Bollerwagen auf Baltrum. Und auch keinen Fahrradverleih. Die Insel fürchtet sonst einen Verkehrsinfarkt. Auf Baltrum kann alles zu Fuß erreicht werden. Nur die Inselbewohner steigen meist aufs Rad. Wartung und Reparatur der Räder erledigt – natürlich – Max. Er beschlägt auch die Pferde für das halbe Dutzend Kutschen, die auf Baltrum fahren. Ein Gespann transportiert vor seiner Haustür gerade das Altpapier ab. Selbst die Müllabfuhr kommt hier mit dem Pferdefuhrwerk. Immerhin gibt es eine Straßenverkehrordnung: Bollerwagen von rechts haben Vorfahrt.

Die Straßen tragen keine Namen; die Häuser sind nummeriert. Nach Baujahr. So steht zum Beispiel Haus Nr. 26 direkt neben Haus Nr. 241 – für Baltrums Briefträger kein Problem. Eines der ältesten Gebäude ist die evangelische Kirche (Haus Nr. 8), um 1830 errichtet. Davor baumelt – frei stehend – die Inselglocke an einem Holzgestänge, das eher an den Galgen aus einem Italowestern erinnert. Die Glocke ist das Wahrzeichen Baltrums. Sie soll Anfang des 19. Jahrhunderts von Insulanern bei einem Trödel in Amsterdam entdeckt und nach Baltrum gebracht worden sein.

Wenn es so etwas wie Baltrum- Downtown gibt, dann ist das Zentrum das kleine Rondell vor der Kurverwaltung. „Platz des himmlischen Friesens“, wie die Insulaner den Kreisel nennen. Drumherum ist die Einkaufsmeile, was auf Baltrum so viel heißt wie: zwei kleine Supermärkte, zwei Backstuben, ein Blumenpavillon, die Boutique Mode- Möwchen, die Gaststätte Sturmeck. Und dann ist man bald rum auf Baltrum. Zumindest im gezähmten Teil.

Immerhin ein Drittel der Insel ist Naturschutzgebiet. In einer einzigartigen Dünenlandschaft gedeihen Flora und Fauna prächtig. Selbst fast schon exotische Pflanzen wie Wollgras und Wintergrün wachsen hier. Das Fehlen von natürlichen Feinden lässt auch die Kaninchenpopulation wachsen. Zur Freude der Jüngsten, denen jedoch auch das Wattenmeer Spannung bietet: Die Kinderwanderung mit Wattführer Torsten, der sofort bei der „Sendung mit der Maus“ anheuern könnte. Er gräbt Wattwürmer aus, erklärt den Schließmuskel einer Muschel und fängt mit dem Kescher in einem Priel eine kleine Scholle. Das kann kein Eltern-Entertainment leisten.

Schon nach wenigen Tagen auf der Insel kommt die innere Ruhe: Die Geräuschkulisse Auto ist nicht da, der menschliche Hörsinn macht völlig neue Erfahrungen. Und auch der Geruchssinn. Auf Baltrum belastet kein Diesel die Atemluft. Und kein Benzinpreis die Psyche. Hier und da mal ein Rasenmäher, der darin erinnert, dass die Welt motorisiert ist.

Mit einem PS (= Papastärke) startet morgens gegen zehn die Bollerwagenkarawane zum Strand. Der ist feinsandig und schier unendlich, obwohl die Insel gerade mal 6,5 Quadratkilometer misst. Der letzte Strandkorb am Ostrand ist seit 39 Jahren das Tagesdomizil von Rolf aus Bottrop. Er verbringt soeben seinen 96. Baltrumurlaub. Seinen Strandkorb hat er zur Hütte ausgebaut, daneben flattert an einem Holzmast die Piratenflagge. Aus Treibholz hat er sich das Hausschild „K. Störtebeker“ geschnitzt. Darauf hockt die Möwe Michel, die er für 50 Cent Kunststücke fliegen lässt. „Rentner bekommen bei Vorlage des Ausweises zwanzig Prozent Ermäßigung“, erzählt Rolf, der – schließt man die Augen – als Helge Schneider durchgehen könnte.

Freaks wie Rolf sind auf Baltrum eher in der Minderheit. Die bunteste Mischung der Mentalitäten trifft sich im Strandcafé am Randes des Westdorfes. Bei „Wattwürmern“ (geringelten Pommes) und Hefeweizen – und jenseits des Jetsets. Die Happy Hour, das ist hier das Nachtleben. Man geht früh essen auf Baltrum. Im Moby Dick oder im Skippers Inn oder doch in der eigenen Ferienwohung. Nur freitags und sonnabends kann schon mal eine kleine Party steigen in der Tanzbar „Kiek“ vom Hotel Strandhof.

Im Vergleich zum Westdorf geht es im Ostdorf noch ruhiger zu. Und das liegt nur wenige Bollerwagenminuten entfernt. Im historischen Café Kluntje (Haus Nr. 29) sind frische Waffeln die Spezialität. Im Sommer werden sie auf der lauschigen Terrasse serviert, im Winter in der gemütlichen Teestube. „Dann gibt es auf Baltrum bald Rum“, witzelt ein Gast. Aber bis dahin fahren noch einige Bollerwagen die Insel rauf und runter.

Uwe Bahn

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