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Verträumt. Nicht überall jedoch ist Wuzhen so still. Viele Chinesen aus den lauten, smoggeplagten Metropolen besuchen den Ort – auf der Suche nach der Vergangenheit.

© Jörg Kersten

China: Am Wasser liegen Schätze

In Wuzhen fahren Besucher mit dem Kahn in die Vergangenheit. Das Erstaunlichste: Die Kulisse ist bewohnt.

Wir checken ein in die Vergangenheit. Nach Aufnahme der Personalien dürfen wir in das Boot steigen, das uns vierhundert Jahre zurück in die Quingdynastie entführt. Der Chinese am Heck stochert seinen flachen Kahn unter anmutigen Bogenbrücken hindurch und hinein in ein Gewirr von Kanälen. Wir gleiten vorbei an Häusern, deren hölzerne Fensterfronten und dekorativen Stufengiebel aus grauschwarzen Ziegeln wohl jeden Filmemacher ins Schwärmen bringen würden. Das historische Ambiente ist perfekt. Wir dürfen uns ganz der Illusion hingeben, im alten China angekommen zu sein. Am liebsten möchte man von nun an monochrom fotografieren.

Wuzhen ist eine Wasserstadt. Eng liegen die Altstadthäuser an den Kanälen. Buckelige Brücken verbinden die rückwärtigen gepflasterten Gassen. Es lohnt einen Moment auf den alten Steinbrücken zu verweilen und zu beobachten, wie die flachen Kähne von den Bootsleuten sicher durch die Wasserwege gerudert werden. Beim Gang durch den traditionsreichen Ort auf holprigem Pflaster lassen wir uns inspirieren: Die schweren Granitplatten, die Steinmetze einst in den schmalen Straßen verlegten, sollten schon vor vierhundert Jahren den hohen Holzkarren die Fortbewegung zu den Verladestationen an den Kanälen erleichtern.

Wuzhen liegt im chinesischen Jiangnan-Gebiet, einer Region südlich des Jangtse, die auch die Ballungsgebiete um Schanghai, Suzhou und Hangzhou umfasst. Ein Netzwerk von Wasserstraßen, Flüssen und Kanälen durchzieht die Gegend. Sie waren wichtige Verkehrswege zwischen den Orten, die über die Jahrhunderte zu schwimmenden Siedlungen mutierten.

Die Schifffahrt lies Wuzhen erblühen

Wo heute hübsche Touristenboote auf Sightseeingtour vorbeigleiten, drängelten einst Fischerboote und Handelsschiffe auf den Kanälen hin zu den Märkten. Die Anbindung der Wasserstadt an den Kaiserkanal, der sich über 1800 Kilometer von Peking bis nach Hangzou erstreckt, förderte über Jahrhunderte in Wuzhen das Handwerk und den Handel. Der Reichtum aber auch die Schönheit der Stadt zog Literaten und Mitglieder des Hofes an, die hier residierten.

Im Anwesen des höchsten kaiserlichen Beamten Nanlin treffen wir Lin Dan. Die junge Frau aus Schanghai hat sich umgezogen. Aus einer ganzen Reihe von Seidenkleidern hat sie sich das rote ausgesucht, eines, das man nur als Gattin eines Würdenträgers tragen durfte. Mit ernster Miene hat sie sich auf dem Bettrand eines kunstvoll geschnitzten Alkovens gesetzt, um sich fotografieren zu lassen. Das Ruhelager ist mit geschnitzten Blüten, Fabelwesen und humoresken Alltagsszenen übersät – ein Bett aus Kaisers Zeiten. Das antike Museumsstück ist mit einem Absperrband geschützt.

Aber Lin Dan ist das egal – sie kriecht unter der Absperrung hindurch und genießt für den Augenblick, einmal Gattin oder Konkubine eines Ministers zu sein in einer längst vergangenen Zeit. „Chinesen lieben es, sich zu verkleiden. Ein Held aus der Geschichte des Landes möchte jeder einmal sein.“ Der Fotograf Herr Kang hält allerhand Kostüme und Utensilien bereit, um seiner Kundschaft den kurzen Trip zurück in die Vergangenheit zu ermöglichen. „Das Geschäft läuft ausgezeichnet“, sagt er und lächelt.

Heute zieht die Wasserstadt viele Gäste an

Die Maskeraden, die die Chinesen so mögen, sind Ausdruck einer Sehnsucht nach alten Zeiten. Es ist ein Trend, der sich auch in den Fernsehprogrammen und Kinos des Landes widerspiegelt. Streifen, die die heroische Geschichte längst vergangener Kaiserzeiten erzählen, haben in China Hochkonjunktur.

Maskerade. Chinesinnen haben ein Faible fürs Verkleiden.
Maskerade. Chinesinnen haben ein Faible fürs Verkleiden.

© Jianan Yu / Reuters

Gedreht wird an historischen Orten, die den Regisseuren als Kulisse ihrer Epen geeignet erscheinen – so wie die Wasserstadt Wuzhen, die sich seit ihrer Restaurierung im Jahre 2007 unter Chinesen zu einem Sehnsuchtsort entwickelt.

Die Ortsansässigen verkraften den Besucheransturm erstaunlich gelassen. Sie wissen, dass der Tourismus ihren Ort vor dem Verfall bewahrt. In den kleinen Läden und Handwerksstuben zeigen sie den Fremden gern, was die Stadt einst so wohlhabend machte.

Manufakturen laden zum Besuchen ein

Die Türen der alten Yida-Seidenweberei mit integrierter Maulbeerbaumschule und Seidenraupenzucht stehen den neugierigen Besuchern offen. Man darf hineinschauen in die Tabakmanufaktur oder einmal in die Sojasoßenfabrik hineinschnuppern, wo in großen Fässern das Gemüse fermentiert wird.

In der Yuchang-Gießerei werden Töpfe und Pfannen noch von Hand hergestellt. Im Vorgarten der kleinen Eisenwarenfabrik steht „der beste Topf der Welt“ – ein Viermeter-Ungetüm von Wok. Mithilfe ihrer Schutzheiligen bewahrte die Belegschaft das 1866 gegossene Gefäß in der Zeit von „Maos Großem Sprung nach vorn“ vor dem Einschmelzen. Heute verkaufen sich die handgemachten Eisenpötte der Gießerei Yuchang an die Touristen aus der Großstadt ausgezeichnet. „Das chemische Element Fe“, so versichert der Arbeiter Dong, „verringert beim Kochen den Vitaminverlust beim Gemüse.“

Auch die Gaogongsheng-Schnapsbrennerei in Wuzhen hat neuerdings einen wirtschaftlichen Aufschwung zu verzeichnen. Das Unternehmen produziert seit gut 500 Jahren den in China berühmten Sanbaiwein, ein Gebräu aus Reis, Mehl und Wasser. 55 Prozent enthält der starke Trunk. Ein Besuch der Brauerei ist daher nur zum Ende des Stadtrundgangs zu empfehlen. Etwaiges Unwohlsein kann man allerdings mit medizinischen Schnäpsen aus der traditionsreichen Apotheke bekämpfen. Die medizinischen Tinkturen erhält man an der linken Theke. Am rechten Tresen werden Salben und Pülverchen angemischt. In der Mitte sitzt ein alter Kräuterarzt am wurmstichigen Tisch und berät die Patienten.

Andere Wasserstädte haben auch ihren Reiz

Begegnungen. In Wuzhen haben die Menschen Zeit für Gespräche.
Begegnungen. In Wuzhen haben die Menschen Zeit für Gespräche.

© Peter Parks/AFP

Kritische Zungen behaupten, Wuzhen sei zu einem lebendigen Museum verkommen und bevorzugen jene Wasserstädte die noch nicht in den Fokus der Tourismusmanager geraten sind.

Nanxun, gerade einmal 30 Kilometer von Wuzhen entfernt, ist so ein Ort. Es riecht nach Kohle, die Altstadthäuser drängeln sich am Kanal, zwei Fischer halten ihre Angeln in das trübe Wasser, Frauen schrubben ihre Wäsche im braungrünen Nass.

Im Gegensatz zu Wuzhen gestaltet sich das Leben hinter den Fassaden der Altstadthäuser von Nanxun alles andere als nostalgisch schön. Die Rentnerin Bao Li beklagt, dass die Zimmerchen ihres Hauses feucht, muffig und dunkel sind. Es gibt weder Heizung noch fließendes Wasser, und der Geruch der Kanäle ist mitunter ziemlich unangenehm. Eifersüchtig blickt Frau Bao Li nach Wuzhen und hofft, dass die Regierung Geld auch nach Nanxun pumpen wird, damit sich die Lebensbedingungen in ihrer Kommune verbessern.

Großstadtmenschen suchen und finden Altstadtidylle

Hong, die junge Kunstlehrerin aus Hangzhou, erscheint da wie die Vorbotin der erhofften neuen Zeit. Sie hat die Jungen und Mädchen ihres Malkurses vor den verwegen geschwungenen Brücken, den Torbögen und Pavillons der Stadt postiert. Ausgerüstet mit Staffeleien und Höckerchen sitzt die Jugend schon früh im Morgengrauen, um mit Tusche einen Ausschnitt aus dem alten China auf das Zeichenpapier zu bannen. Die von Feuchtigkeit und Schimmel gezeichneten Häuserfronten verlocken zu einem Aquarell.

Auf der Suche nach guten Motiven für ihre Klassen hat Frau Hong die Wasserstädte Nanxun, Luzhi, Tongli, Wuzhen, Xitang und Zhouzhuang besucht. Jeder dieser Orte hat seinen eigenen Reiz, findet die Lehrerin. Allerdings mangelt es hier und dort noch an touristischer Infrastruktur. Frau Hong ist jedoch davon überzeugt, dass sich das bald ändern wird. Die Sehnsucht der Menschen in den versmogten Metropolen nach Altstadtidylle ist kaum mehr zu bremsen.

Während sich Nanxun noch mit wenigen Tagesgästen auf Stippvisite begnügen muss, boomt in Wuzhen das Geschäft. Der Ansturm großstadtmüder Ausflügler auf das Vorzeigestädtchen ist besonders am Wochenende enorm. Dank der Geldmittel ist die Kommune hervorragend auf die Besucher eingestellt. Zahlreiche Altstadtherbergen sind renoviert und bieten für gutes Geld gar Zimmer mit Aussicht auf den Kanal.

Wuzhen ist auch die Stadt der Liebe

Niemand muss sich hier langweilen. Allabendlich werden auf der hundertjährigen Bühne des Schauspielhauses Szenen der lokalen Tongxian-Oper aufgeführt. Das gleich nebenan gelegene Schattentheater ist täglich geöffnet, und die zahlreichen Gasthäuser der Stadt locken Besucher mit kulinarischen Köstlichkeiten. Da lohnt es sich, schon einmal ein paar Tage zu bleiben.

Am Abend in der Dunkelheit inszeniert sich Wuzhen nochmals als Sehnsuchtsort. Die alten Steinbrücken und Häuschen sind raffiniert angestrahlt. Unzählige Lampions verleihen mit ihrem warmen Licht eine romantische Atmosphäre. In Wuzhen, so sagen die Einheimischen, haben schon viele Paare zueinandergefunden. Man möchte es glauben, denn aneinandergeschmiegt genießen sonst eher körperscheue Chinesen die nächtliche Kahnfahrt durch die Kanäle der alten Stadt.

Am nächsten Morgen ist der Traum leider vorbei. Dann heißt es auschecken aus der Vergangenheit. Lin Dan, die Konkubine des Hofbeamten, wird mit dem Zug von Lanzhou aus 400 Kilometer schnell in die Gegenwart zurückrasen, zurück nach Schanghai in die moderne Welt aus Beton und Stahl.

Jörg Kersten

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