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Reise: „Dort war meine Bank“

In London führen Obdachlose Touristen durch die Metropole – mit überraschenden Einsichten.

„Während des Zweiten Weltkriegs bauten Frauen die Waterloo-Brücke wieder auf“, sagt Viv – wie alle Stadtführer, wenn sie Touristen London zeigen. „Und hier sehen Sie die Stufen unter der Brücke, dort habe ich zwei Monate lang in einem Verschlag aus Paletten und Kartons geschlafen“, fährt die 50-Jährige fort. Anekdoten wie diese unterscheiden Vivs Rundgang von allen anderen Touren durch die britische Hauptstadt. Viv ist obdachlos. Seit mehr als zehn Jahren lebt sie auf den Straßen und Plätzen Londons.

Die Idee, Menschen ohne festen Wohnsitz als Stadtführer einzusetzen, stammt von der Initiative „The Sock Mob“. Die Touren zu Fuß geben Einheimischen und Besuchern die Möglichkeit, ein Stadtviertel aus der Sicht eines dort lebenden Obdachlosen zu entdecken.

Vivs Tour beginnt am Temple-Platz am Nordufer der Themse. In der Mitte des Platzes steht eine Statue des Industriellen William Edward Forster. Vier Sommer lang war dieser Ort Vivs Zuhause. „Die Bank dort drüben war meine“, sagt die ausgemergelte Frau mit dem lückenhaften Gebiss. „In so einem Park, der nachts abgeschlossen wird, ist man sicher. Wenn eine Bank frei wird, verbreitet sich das über Mund-zu-Mund-Propaganda.“ Viv spricht hektisch, die Aufregung treibt ihr Schweiß auf die Stirn. Doch die Gruppe von zehn Touristen hört ihr gebannt zu.

Nächster Stopp sind die Arkaden beim Luxushotel Savoy. „Bevor sie die Arkaden mit Gittern absperrten, haben hier bis zu 200 Leute geschlafen. Eines Nachts haben Männer eine schlafende alte Frau mit Benzin übergossen und versucht sie anzuzünden“, sagt Viv. „Zum Glück wurden sie vertrieben.“ „Hat Ihnen das Hotel nichts zu essen gegeben?“, fragt einer der Touristen. „Das ist ein Hotel für die Reichen“, antwortet Viv ohne Bitterkeit in der Stimme. Nach und nach werden die Fragen persönlicher. „Warum sind Sie auf der Straße gelandet?“, will der Niederländer Paul van Beusekom wissen. „Meine Ehe ging in die Brüche. Da habe ich meine zwei Kinder zurückgelassen und bin 1997 auf und davon“, erzählt Viv.

Noch einige andere Obdachlose bieten Stadtführungen in London an. Die Tour kostet zehn Pfund (zwölf Euro). 60 Prozent der Einnahmen gehen an die Führer, zudem bekommen sie monatlich 40 Pfund für Transport und 20 Pfund für Telefongebühren. Pro Woche verdiene sie auf diese Weise zwischen 25 und 30 Pfund, sagt Viv. Ihr geht es auch darum, fit im Kopf zu bleiben und die Tage sinnvoll zu füllen. „Dann habe ich noch anderes zu tun, als Straßenzeitungen zu verkaufen“, sagt Viv. Die Touren zeigten, dass „nicht alle Obdachlosen Faulpelze sind“, sagt die Britin Angie Hester, die zu Besuch in London ist. AFP

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