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Reise: Durch alle Wetter musst du gehen

555 Kilometer von München bis Venedig, zu Fuß über viele Gipfel. Warum tut man das? Weil es glücklich macht

Vierter Tag. Beim Abstieg von der Birkkarspitze kurz darüber nachgedacht, ob die Sohle des rechten Schuhs den richtigen Moment gewählt hat, sich ausgerechnet jetzt zu lösen und fast haltlos unter dem Restschuh zu flattern. Soll heißen: Wenn man gerade in einem nahezu senkrechten Felsstück hängt und etwa 14 Kilo auf dem Rücken hat und dieser Rücken Richtung Abgrund blickt, könnte die feste Verbindung von Schuh und Sohle hilfreich sein. Auch wenn das Felsstück gut versichert ist mit einem Drahtseil und Trittbügeln. Ganz klar – definitiv kein guter Moment. Und da kann man sich schon mal fragen: „Was mache ich hier eigentlich?!“

Ich gehe von München nach Venedig. Über die Alpen. Vom Marienplatz zum Markusplatz. In aller Bescheidenheit und Nüchternheit: Das sind 555 Kilometer und 47 200 Höhenmeter, 22 200 im Aufstieg und 25 000 im Abstieg. Um den Unterschied zwischen Aufstiegshöhenmetern und Abstiegshöhenmetern zu verdeutlichen, schon mal ein Fazit vorweg: Für die Aufstiege braucht man Kondition, für die Abstiege Paracetamol oder ein anderes wirksames Mittel gegen die Schmerzen in den Gelenken. Und warum macht man so einen Quatsch? Weil es traumhaft ist, herrlich, wunderbar, fantastisch, überwältigend, großartig, einfach nur großartig. Oder, mit den Worten eines anderen, minimal bekannteren Helden der Felsen, mit den Worten Reinhold Messners: „Warum steigt man auf Berge? Weil sie da sind.“

Einen besseren Grund gibt es nicht. Und man braucht dazu, so heißt es immer wieder, wenn man in die Berge geht, erst mal gute Schuhe. Es gibt aber auch Menschen, die barfuß Gipfel stürmen, und einer überholte uns knapp unterhalb des Schlauchkarsattels (2620 m) bei der Überquerung eines Schneefeldes, der hatte eine kurze Turnhose an, ein dünnes T-Shirt und feste Bergschuhe an den Füßen, allerdings ohne Schnürsenkel. Von Menschen auf Wanderschaft mit Schuhen ohne Sohlen hat man noch nichts gehört. Keine Ahnung, warum sich am vierten Tag einer Fernwanderung gleich beide Sohlen von eigentlich guten Schuhen lösen. Gesichert aber ist, dass es sich nicht gut läuft auf Sohlen, die nur noch an der Fußspitze verleimt sind. „Was mache ich hier eigentlich?“

Ich reiße die Abtrünnigen komplett ab und laufe auf der Schaumgummipolsterung über Stock und Stein, durch Pfützen und Schneefelder, was die Socken schön gleichmäßig durchnässt – man wird schnell buddhistisch in den Bergen. Und weil in Scharnitz weder ein Schuster noch ein Schuhgeschäft zu finden ist, gewinnt man in so einem Fall auch noch eine Zugfahrt nach Hall in Tirol, lernt dort einen Schuster kennen, der die alten Schuhe für irreparabel erklärt, aber dafür eine kleine Auswahl an neuen Schuhen im Laden hat. Die reine Lehre besagt, dass man Bergschuhe erst umständlich einlaufen muss, bevor man sie am Berg einsetzt, die reine Lehre sagt, dass man sonst Blasen bekommt. Da irrt die reine Lehre, die vorsichtshalber mitgekaufte Großpackung an Druckpflastern überdauerte unangetastet bis Venedig.

Im Schnitt gehen etwa 15 Menschen die Strecke München–Venedig in den wenigen Sommermonaten. Täglich. Das sind nicht viele, wohl auch, weil die Strecke, sagen wir, Jakobsweggehern dann doch ein wenig zu anspruchsvoll, zu steil, zu anstrengend, zu spektakulär und so gar nicht spirituell ist. Das Weitere regeln Wanderführer, wie etwa der aus dem Rother-Verlag. Die dort angegebenen Gehzeiten sind aber allenfalls Annäherungswerte, und was die Schwierigkeiten der Etappen angeht, nun ja, mitunter muss man auch Grenzen überwinden. Aber kaum einer der 15 geht die gesamte Strecke am Stück. Grundvoraussetzung dafür sind nämlich Chefs, die einem signalisieren, „freie Tage“ abzubauen. Wir sind am Stück gegangen! Das muss auch mal gesagt werden. Am Stück! Nicht etwa auf vier Jahre verteilt. Am Stück, in 24 Tagen. Aufstehen, gehen, gehen, gehen, ankommen, essen, trinken, trinken, schlafen, aufstehen, gehen, gehen, 24 Tage lang. Mag ja sein, dass das auch eine Frage der Urlaubsmöglichkeit ist, aber in aller Bescheidenheit und mit allem Stolz, München–Venedig in vier Jahren, ist das nicht in etwa so wie der Segler, der seemeilenmäßig schon die ganze Welt umsegelt hat, tatsächlich aber nur unzählige Male den Wannsee durchpflügt hat? Ist es nicht, gut, dann zur Wahrheit.

Wir sind in München am Marienplatz losgegangen. Durch die Kaufinger Straße, dann ein Stück mühelos abwärts, dann durch die Stachus-Unterführung und wieder mühelos (weil auf der Rolltreppe) aufwärts, von wo aus man schon einen schönen Blick auf den nahe gelegenen Bahnhof hat, von dem die Bayerische Oberlandbahn den Wanderer zügig und trocken nach Bad Tölz bringt. Puristen mögen den schmucklosen Weg entlang der Isar als notwendiges Übel auch zu Fuß gehen. Ich bin kein Purist. Und noch ein Geständnis: Von Belluno aus, nachdem wir über alle Berge waren, haben wir bis Jesolo den Bus bevorzugt, gottesfürchtige Pilgerer werden den Marsch durch die Industriegebiete des Piave-Tals ebenfalls nicht missen mögen. Ich schon.

Und? Ändert das etwas am Heldenstatus des Alpenüberquerers? Pah! Wir sind durch alle Wetter gegangen. Vom Brauneck rüber zur Tutzinger Hütte unterhalb der Benediktenwand im strömenden Regen und durch kaum durchschaubaren Dunst, so diesig war es da, dass der Steinbock auf dem Weg erst zu sehen war, als er drei Meter vor uns stand. Es hat ihn aber nicht gekümmert, er hat sich einfach getrollt. Wir haben am Kleinen Ahornboden (1399 m) die Mountainbiker ertragen, die sich dort in Scharen verlustieren, wohl auch, weil sie eh nur bis zum Karwendelhaus (1780 m) mithalten können und danach der Weg zu steinig und zu steil für sie ist. Und als wir von der wunderschönen Olperer Hütte (2389 m) auf dem herrlichen Neumarkter Höhenweg mit eigentlich grandiosem Blick auf den Schlegeis- Speichersee (wenn man denn Blick hat, wir hatten nicht, wir hatten Nebel) hinübergingen nach Italien zum Pfitscherjoch, da setzte unmittelbar am Grenzstein Schneefall ein. Es gab Hitzetage, an denen in kurzen Hosen die Beine schneller verbrennen, als man die Sonnencreme auspacken kann. Es gab Anstiege, etwa zum Maurerberg hinauf (2332 m), bei dem die im Flachland gerauchten Camels packungsweise aus der Lunge zischen, was der Berg mit einem 360 Grad Rundumblick belohnt, einem sagenhaften Blick. Wir hatten Dissenz darüber, ob man denn jeden am Wege stehenden Enzian persönlich begrüßen muss oder doch lieber zügig voranschreitet, damit das Bier, das in der Hütte wartet, die noch 7,5 Stunden entfernt ist, nicht schal wird.

Spektakuläre Klettersteige liegen auf dem Weg, die Friesenbergscharte, die Nives-Scharte, der Steig durch die Schiara- Gruppe (der allerdings nur mit Klettersteig-Ausrüstung zu begehen ist), und wenn man einen dieser Steige bewältigt hat, dann weiß man, was man hier eigentlich macht. Und weil man dann ohnehin schon gut in Form ist, haben wir auch noch kurz den Piz Boè bestiegen, selbst wenn der nicht direkt am Weg liegt, aber 3152 Meter hoch ist und sich von dort ein Blick auftut, gegen den der vom Maurerberg nur eine Fototapete der Dolomiten ist. Zu sehen ist die Marmolada, die Civetta, diese mächtige Wand, unter der wir durchs Geröllfeld mehr tasten als gehen, der Pelmo, der nicht auf dem Weg lag, welch Glück, weil er stets umtost ist von Wolken und schlechtem Wetter, der Rosengarten, Schlern, Lang- und Plattkofel, erhaben fühlt man sich hier oben und überwältigt, überwältigend das Gesamte. Darauf einen Grappa, einen 3000er- Grappa, einen 9-Uhr-30-Grappa.

Dann sind sie alle überwunden: das Karwendel, der Tuxer Hauptkamm, die Zillertaler Alpen, die Dolomiten, die „schönsten Berge der Welt“, wie der eingangs erwähnte unmerklich bekanntere Bergsteigerkollege sie nennt. Tagesetappen zwischen sechs und zwölf Stunden, wunderbar. Ein letzter, fürchterlicher 1490-Meter-Abstieg, und die Paracetamol sind auch schon aufgebraucht. Und trotzdem ist alles wunderbar.

24. Tag. Letzte Etappe, allein schon der Ehre wegen zu Fuß zurückgelegt. Durch Lido di Jesolo gestapft, ein Ballermann der Adria. Die Sohlen halten, die Frage bleibt: „Was mache ich eigentlich hier?“ 26 endlose Kilometer auf der Landstraße bis Punta Sabbione, kein Höhenmeter mehr, nur Hitze und Asphalt. Beine werden schwer, Schritte kürzer, der Durst größer.

Dann breitet sich die Lagune aus. Der örtliche Supermarkt verkauft kalten Prosecco, auch Plastikbecher. Auf dem Vaporetto, dem Linienboot hinüber zum Markusplatz, mit Blick auf Venedig und dem Becher in der Hand: „Ich weiß, was ich hier mache, ich weiß, was ich gemacht habe!“ Die Alpen überquert. Zu Fuß. Traumhaft, herrlich, wunderbar, fantastisch, überwältigend, großartig, einfach nur großartig. Als das Boot am Markusplatz anlegt, läuten die Glocken vom Campanile. Ist ja wohl auch das Mindeste an Heldenverehrung.

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