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Winter in Lenggries. Höchste Zeit für Michi Gergs (rechts) Skikurse.

© promo/Cyris

Brauneck-Wegscheid: Leicht talwärts beugen

Wer nach jahrelanger Pistenabstinenz wieder auf die Bretter steigt, braucht Mut – und einen Kurs für Wiedereinsteiger.

Ich hätte den Skistars nicht so sehr auf den Hintern schauen sollen. Im übertragenen Sinne. Hätte mir nicht so viel bei Bode Miller oder Anja Pärson abgucken sollen. Deren Fahrstil – mit weit nach hinten verlagertem Körperschwergewicht – ist nur etwas für Pistencracks mit stählernen Oberschenkeln und Zeitdruck auf der Strecke. Aber nichts für Gelegenheitsskifahrer, nichts für Wiedereinsteiger. Also nichts für mich. Doch angeblich verlernt man das Skifahren nicht. Wer allerdings nach langer Pistenabstinenz wieder auf die Bretter steigt, hat mit neuen Techniken und alten Ängsten zu kämpfen. Die Skischule von Ex-Skirennläuferin Michaela Gerg im bayerischen Lenggries bietet spezielle Kurse für Wiedereinsteiger.

„Po rein, Körper leicht talwärts beugen und dabei etwas in die Knie gehen“, korrigiert Thomas meine Körperhaltung. Weil ich künftig die Hänge im sauberen Carvingstil hinunterhuschen will, finde ich mich im Skigebiet Brauneck-Wegscheid wieder. Freiwillig degradiert auf den Übungshang, mit Skilehrer Thomas und anderen Teilnehmern, die es noch einmal wagen wollen.

Zwischen knallbunten Kobolden und Clowns, zur Motivation der ganz Kleinen aufgestellt, übe ich Pflugfahren und den parallelen Grundschwung. Den richtigen Stockeinsatz, das kurze Aufrichten vor den Kurven und den gekonnten Notsturz, in Fachkreisen auch „Arschbremse“ genannt. Erstmals in meinem Leben stehe ich auf taillierten Carvingski. Zuvor bin ich mehrere Winter lang auf ultrakurzen Snowblades und mit einer holprigen Learning-by-doing-Technik schneebedeckte Hügel heruntergefahren. Besser gesagt, heruntergekommen.

Auf Skiern, die länger als einssiebzig sind, stand ich das letzte Mal als Grundschüler, Mitte der siebziger Jahre. Ich hatte das Fahren mit Pflug- und Stemmbogen gelernt. Mehr schlecht als recht, auf elendig langen Latten. Genussvolles Carven kenne ich nur vom Hörensagen.

Über allen Gipfeln schweben. Im Lift kann man nicht nur die Aussicht genießen, sondern gehörig Kraft sammeln – für die nächste Abfahrt.

© promo

Meine größte Angst beim Wiedereinsteigerkurs: Dass sich die Skier wie dereinst beim ersten Skikurs ständig ineinander verkeilen und überkreuzen. Dass ich mehr falle als fahre. Dass ich auf einem knallharten, vereisten, steilen Skihang stürze und ungebremst talwärts rutsche.

Sturzangst, Höhenangst, Angst vor Geschwindigkeit und vor Kontrollverlust. Thomas kennt die Furcht in den Köpfen seiner Schüler. Die modernen Skier erfordern außerdem eine ganz andere Technik, als sie mancher anno dunnemals gelernt hat. „Wir deinstallieren jetzt einfach die alte Software in euren Köpfen und spielen ein neues Programm drauf“, sagt der Skilehrer. Bei manchem Teilnehmer genüge auch ein Update. „Je nachdem, was jeder von euch mitbringt“, fügt Thomas hinzu und versucht gar nicht erst, seinen oberbayrischen Dialekt zu verbergen.

"Körper weiter nach vorne, kruzifix!" - Skifahren lernen auf typisch oberbayrisch...

Das Konzept für die Wiedereinsteigerkurse ist denkbar einfach: Möglichst wenig Theorie, aber viel praktische Übungen. Außerdem kleine Gruppen, damit individuelle Schwächen gezielt beackert werden können. Mit viel Erfahrung und Einfühlungsvermögen spielt Thomas auf der Skilehrerklaviatur – und trifft dabei immer den richtigen Ton. „Du hast ein bisschen mit der Rückenlage herumexperimentiert“, urteilt er im ermunternden Pädagogendeutsch, als mein Hinterteil mal wieder zu weit nach hinten drängt. Die höfliche Wortwahl eines Dienstleisters auf Skiern. Denn auf Oberbayrisch übersetzt hieße seine Kritik eigentlich: „Körper weiter nach vorne, kruzifix!“

Thomas ist ein alter Spezl von Michaela Gerg, der früheren Skirennläuferin aus Lenggries, die hier alle nur Michi rufen. Vor drei Jahren eröffnete die mehrmalige Weltcupsiegerin und Besitzerin einer Bronzemedaille eine Skischule am Brauneck, dem Hausberg von Lenggries.

Im Skigebiet Brauneck-Wegscheid haben schon Weltmeister Skifahren gelernt...

© Promo

Hier unterrichtet auch Thomas, im Hauptberuf Inhaber eines Malergeschäfts. Er hat schon so mancher verblassten Skitechnik zu einem neuen Anstrich verholfen. Zur Idee mit den Wiedereinsteigerkursen kamen er und Michi Gerg durch die vielen Mamis und Papis, die ihre Kinder zu Skikursen anmeldeten, um dann stundenlang an der Talstation auszuharren. Regungslos und halb steif gefroren.

„Viele von ihnen sind früher selbst auf den Skiern gestanden“, sagt Michi Gerg, „aber trauen es sich nicht mehr zu.“ Stress, Bewegungsarmut, Schwangerschaften, Zipperlein – „die typischen Ausreden eben“, sagt die Ex-Rennläuferin grinsend. Doch der prominente Name und ein charmantes Lächeln helfen so manchem Bürohengst wieder auf die Sprünge, pardon auf die Schwünge.

Etwa Eike aus dem Thüringer Wald. „Ich war zuletzt nur im Bürostuhldrehen aktiv“, gesteht er. Doch Eike zeigt Talent und Fortschritte. „Ausbaufähig“, urteilt Thomas pädagogisch geschickt – und schickt mich und Eike am zweiten Tag ins Gelände. Sprich ins richtige Skigebiet. Zu den Könnern. Weg von Clowns und Kobolden. In die Nähe von blutroten und pechschwarzen Pisten. „Meinst du wirklich?“, fragt Eike? „Scho!“, sagt Thomas glattweg. Später verrät er: „Ich spüre den Zeitpunkt, wann der einzelne Teilnehmer für den nächsten Schritt bereit ist, auch wenn er es selbst noch nicht weiß.“

Oben angekommen tut sich nicht nur ein herrlicher Blick aufs Karwendelgebirge und die Zugspitze auf – vor uns liegen auch Abgründe. Eike steht vor der ersten roten Piste seines Lebens. Und die ist gleich im oberen Teil verdammt steil. Mit geschultem Blick bemerkt Thomas die geweiteten Pupillen und herunterhängenden Mundwinkel von Eike. „Öha, locker bleiben“, sagt Thomas und zeigt uns, wie wir sicher die Piste hinunterkommen. Zuerst langsam, dann immer schneller – bis wir gar nicht mehr genug vom Carven bekommen können und am dritten Tag das ganze Skigebiet erkunden wollen.

Mit rund 34 Pistenkilometern zählt das Skigebiet Brauneck-Wegscheid zu den kleineren Revieren. Doch sein Terrain ist äußerst abwechslungsreich. „Wer Brauneck gut meistert, kann auf der ganzen Welt Ski fahren“, meint Thomas. Wohl nicht zufällig ist Lenggries der Ort mit den meisten Skiweltmeistern weltweit: Martina und Andreas Ertl sowie Hilde, Annemarie und Michi Gerg. Sie alle haben das Skifahren am Brauneck gelernt. Na, wenn das keine Perspektiven für mich sind.

Martin Cyris

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