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Mit Augenmaß. Zwei Käuzchen im Freigehege Neuschönau des Nationalparks. Hier gibt es auch einen Baumwipfelpfad.

© Martin Kirchner/laif

Nationalpark Bayerischer Wald: Was fällt, darf liegen bleiben

Bloß nicht aufräumen: Der Nationalpark Bayerischer Wald ist der älteste Deutschlands und besticht durch seine Wildnis.

Wer als Deutscher zugäbe, noch nie in einem richtigen Wald gewesen zu sein, würde vermutlich ziemlich schräge Blicke ernten. Dabei trifft das auf fast alle Bundesbürger zu – bloß wissen sie es nicht und würden es weit von sich weisen. Schließlich gehen viele von ihnen gerne spazieren – und das am liebsten unter grünen Wipfeln.

Doch alle, die sich für erfahrene Waldwanderer halten, sollte man am besten in einen ICE-Zug verfrachten und erst im niederbayerischen Plattling zwischen Regensburg und Passau wieder aussteigen lassen. Dort müsste die ungläubige Truppe dann in die grüne Waldbahn umsteigen, einen flotten Triebwagen, der stündlich über Zwiesel einmal nach Bayerisch Eisenstein, ein anderes Mal nach Grafenau saust, alle zwei Stunden im Wechsel hinein in den Bayerischen Wald. Und schließlich dürften die skeptischen Reisenden ab Spiegelau in den sogenannten Igel-Bus wechseln – bis zur Haltestelle „Seelensteig“ in Deutschlands ältestem Nationalpark. Und erst jetzt, nahe der Grenze zu Tschechien, stünden sie wirklich im Wald, die meisten von ihnen erstmals im Leben. Und schon nach wenigen Minuten sähen sie das auch ein.

Denn in diesem Wald, der eben kein Forst mehr ist wie fast überall sonst in Deutschland, darf die Natur es richten, wie sie will. Hier sieht es nicht aus wie zu Hause, wenn Mutter aufgeräumt hat, sondern eher so wie im Zimmer eines widerspenstigen Teenagers, der gebrauchte Unterwäsche, T-Shirts und Hosen nachlässig auf den Boden wirft und alles dort liegen lässt. Die Natur aber macht es hier genau so.

„Wald lehrt uns, dass Monotonie den Geist verdüstert und das Leben gefährdet“, steht auf einer Holztafel am Beginn des Seelensteiges. Über Bohlen führt dieser 1300 Meter weit durch einen aufkommenden Naturwald, wie man ihn sonst kaum irgendwo in Deutschland findet. Mehrfach überspannen kleine Holzbrücken respektvoll einzelne, von allerlei Moosen, Flechten und Pilzen besiedelte Tannen- und Fichtenstämme, die nach 1983 von Stürmen umgestürzt oder von Borkenkäfern zugrunde gerichtet worden sind: das sogenannte Totholz, ein Leckerbissen für Hunderte von oft selten gewordenen Käfern.

Doch längst recken sich neben verbliebenen Altbäumen wieder junge Weißtannen, Rotbuchen und Fichten in die Höhe, dazwischen vereinzelt auch Bergahorne und Ebereschen, Hängebirken und Salweiden – mit einem Wort: ein gesunder Bergmischwald im Kindergartenalter. Und dazwischen hält sich vielleicht noch ein Baumgreis, wie jene vor wenigen Jahren abgestorbene Fichte, die ihre ersten Nadeln vor etwa 350 Jahren aufspannte, als sich der Pulverdampf des Dreißigjährigen Krieges gerade erst verzogen hatte.

Die Nationalpark-Verwaltung nennt den knapp 900 Meter hoch gelegenen Seelensteig treffend ein „Zukunftsfenster in die natürliche Waldentwicklung“: Hier wird klar, wie Wildnis aus zweiter Hand aussieht, die den Namen Wald wirklich verdient hat – anders als die altersgleichen, in Reihe stehenden Fichten-Spaliere oder Douglasien-Plantagen, die vielerorts in Deutschland Natur bloß vortäuschen, aber leider so häufig dafür gehalten werden.

„Der Seelensteig ist ideal geeignet, um auf kurzer Strecke die Nationalpark-Philosophie zu begreifen: Natur Natur sein lassen“, sagt der gelernte Förster Rainer Pöhlmann, der seit 35 Jahren für den Park arbeitet, seit längerem als Pressesprecher. Inzwischen, nach seiner Beinahe-Verdopplung 1997, ist der Nationalpark Bayerischer Wald gut 242 Quadratkilometer groß, aber kaum irgendwo sonst ist das, was die Natur mit ihm vorhat, so deutlich zu sehen wie in dem wirren Wildwuchs aus Buchen, Tannen und Fichten am Seelensteig, der seit den 70er Jahren nicht mehr zum Lebenserwerb genutzt worden ist – jedenfalls nicht von Menschen.

Im alten Teil des Parks, rings um die 1373 beziehungsweise 1443 Meter hohen Berge Lusen und Rachel, sind schon seit 1971 jene 75 Prozent der Fläche der Natur überlassen, welche die Weltnaturschutzunion IUCN für einen international anerkannten Nationalpark spätestens 30 Jahre nach seiner Eröffnung fordert; insgesamt hält sich der holzende Mensch inzwischen auf etwas mehr als der Hälfte des Nationalparkgebiets zurück.

Dass viele „Wäldler“, also die Einheimischen im Umfeld des Parks, dieses Heraushalten und Nichtstun nicht nur skeptisch betrachtet haben und teils noch immer betrachten, dass sie den Verzicht auf Eingriffe zeitweise sogar mit zweifelhaften Mitteln bekämpften, hat sich weit über den Bayerischen Wald hinaus herumgesprochen. Schuld daran ist der juristisch völlig unschuldige Große achtzähnige Fichtenborkenkäfer (Ips typographus), ein Nutzholz-Schädling, der wegen seines Fraßbildes landläufig Buchdrucker genannt wird.

Vor allem in den Höhenlagen des Parks, etwa auf dem Lusen, haben schon vor Jahrzehnten Heerscharen der vier bis fünf Millimeter großen Holzbohrer Fichtenforste zerstört, von denen so mancher Wäldler gelebt und an deren Anblick sich die Menschen vor Ort über Generationen hinweg gewöhnt hatten. Und nun – so hieß es nach 1971 – sollte dieser Schädling nicht einmal mehr bekämpft werden? Außer in einem etwa 500 Meter breiten Saum zu den umliegenden privaten Nutzwäldern? Die Proteste wogten.

Doch inzwischen haben sich die Menschen – zumindest jene im älteren, südlichen Teil des Parks – mit dem Schutzgebiet und dessen Zielen arrangiert. Erst recht gilt das für den Wald am Seelensteig, der die Windwurf- und Borkenkäfer-Opfer unter den Bäumen in Seelenruhe überwuchert hat: „Die Einheimischen, die früher gegen das Liegenlassen der von Stürmen umgerissenen Bäume waren, sind heute stolz auf den aufkommenden Wald und schicken ihre Gäste extra hierher“, sagt Rainer Pöhlmann lächelnd. Kein Wunder, dass ihn das freut. Es war harte Arbeit.

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