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Dampfmaschine

© Max Ehlert/Ullstein Bild

Lüdenscheid: Das Traumgeschenk

Eine Dampfmaschine - einst Weihnachtswunsch kleiner Jungs. Heute finden Männer sie. In Lüdenscheid.

Lüdenscheid! Sie hatten mich für verrückt erklärt in unserer einmal jährlich im Dezember stattfindenden Feuerzangenbowlen-Runde. Wir waren irgendwie beim Thema „Weihnachten gestern und heute“ angelangt. Und wie es so ist, dieses Teufelsgebräu aus bärenstarkem Karibikrum, Zucker und schwerem Rotwein gebiert schon mal hanebüchene Ideen. Der Weihnachtstalk gipfelte schließlich irgendwie im „Traumgeschenk unserer Jugend“ – einer Dampfmaschine, wie sich herausstellte. Und wenn man diesem Traum weiter nachjagt, landet man eben unweigerlich in Lüdenscheid. Doch der Reihe nach.

Selig trunken und larmoyant in der Vergangenheit badend, einigte sich die Feuerzangenbowlen-Runde zunächst darauf, dass Kartoffelsalat mit Würstchen tausendmal delikater und weihnachtlicher sowieso seien als dieser ganze Quatsch, den wir uns heutzutage zumuten, angefangen bei den Austern und diesem Hummer- und Schalentierzeugs, fortgesetzt bei neumodischem Sushi-Geröll oder gar dem sündhaft teuren Kobebeef aus Fernost. Geschenke waren auch ein Thema. Das ewige „Wir schenken uns nichts“, was denn doch nicht eingehalten wird, war recht bald abgehandelt.

Und wo Männer sich treffen, um Feuerzangenbowle zu süffeln, ist meist ein Laptop nicht sehr weit. Einer hatte einen dabei, und so schnüffelten wir im Internet nach den Pretiosen unserer Kindheit, nach den Hoffnungen von damals, es möge sich doch der Nikolaus erbarmen und wenigstens dieses eine Mal den Topwunsch Nummer eins, das Nonplusultra allen Spielzeugs unter den prächtigen Christbaum legen. Männer, die wir sind, und Kinder, die wir alle mal waren, einigten wir uns sehr bald auf eine Dampfmaschine. Die fast jeder mal haben wollte und nur die wenigsten wirklich bekamen. Der Laptop spuckte dann Lüdenscheid aus. Denn dort, im „Tor zum Sauerland“, werden noch heute die besten Dampfmaschinen der Welt in der ältesten Dampfmaschinenmanufaktur der Welt fabriziert. Nichts wie hin und Christagsfreude kaufen! Einer für alle, und der darf ich sein.

Und so stehe ich dann auf einem Weihnachtsmarkt ohne Schnee, der sich etwas großspurig „1. Historischer Weihnachtsmarkt“ nennt und mit Sicherheit, falls die Lüdenscheider noch alle Tassen im Spind haben, auch der letzte dieser Art sein wird. Ein traurigeres Ereignis als diese Ansammlung toter Hütten ist kaum denkbar. Lustlos in die Fußgängerzone verteilt, Ambiente, Deko und Atmosphäre gleich null. Oje, wie soll einem hier vorweihnachtlich ums Herz werden? Eine Schlittschuhbahn vor dem Rathaus vereinigt wenigstens Winter und Weihnachtsmusik in sich, na gut, da hat Lüdenscheid ja gerade mal die Kurve noch gekriegt.

Doch nun auf zu Wilesco, der Wilhelm Schröder & Co. Metallwarenfabrik, den Weltmeistern im Dampfmaschinenbau. Ehrlich gesagt, als Kind wollte ich immer nur Bücher, niemals nicht aber so eine Dampfmaschine geschenkt haben. Allerdings galt so ein Maschinchen schon damals als exklusivstes Spielzeug überhaupt. Nur reiche Leute und Söhne von Fabrikdirektoren hätten so etwas, munkelte man. Für unsereins sei so was viel zu teuer. Ich kannte die Dampfmaschine nur aus der, und da schließt sich der Kreis, „Feuerzangenbowle“ von Heinrich Spoerl. Da sagt doch der schusselig- liebenswerte Lehrer Bömmel, im Film gespielt vom unvergessenen Paul Henckels: „Wat is en Dampfmaschin’? Da stelle mer uns janz dumm, und da sage mer so: En Dampfmaschin’, dat is ene jroße schwarze Raum. Der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch, dat is de Feuerung. Und dat andere Loch – dat krieje mer später.“

Erst mal kriegen wir gar nichts. Denn Wilesco baut zwar Dampfmaschinen aller Art, schickt diese sogar nach China, Japan und sonst wo hin, aber verkaufen, am Werkstor oder in einem kleinen Dampfmaschinengiftshop, wollen sie nichts. Nicht mal die allfälligen Ersatzteile, ohne die ja bei Dampfmaschinen rein gar nichts mehr gehen und dampfen soll, bieten sie hier feil. Zwei Läden werden jedoch empfohlen, downtown Lüdenscheid: Der eine ist der Bahnladen Schnurre, doch der ist eher auf Modelleisenbahnen spezialisiert. Der andere Händler heißt Illhardt und gilt bundesweit als die Topadresse für alles, was Dampf und Spaß macht, inklusive Selbstbausätze und Reparatur-Kits.

Die Sinnsuche nach vorweihnachtlicher Freude und die Gelegenheit, im hohen Mannesalter nach der Mutter aller Jungsgeschenke zu suchen, offenbart allerdings eine weitere Bonanza durablen, pädagogisch hochwertigen Spielzeugs: Siku-Autos! Und Wiking-Autos obendrein! Auch diese Kultgeschenke, heiß gehandelt als Tauschwerk auf den Schulhöfen unserer Kindheit, abgöttisch verehrt ob ihrer Authentizität, penibel und maßstabgerecht den Originalen abgeschaut und nachgebaut und lackiert, stammen aus Lüdenscheid. Zugegeben, Berlin hat bei den Wiking-Mobilen auch noch ein bisschen die Hände im Spiel, denn ursprünglich stammen sie aus der Hauptstadt. Seit ein paar Jahren wird jedoch ausschließlich in Lüdenscheid an den faszinierenden Miniaturen gewerkelt. Wiking Berlin dient lediglich noch als Standort der Verwaltung. Gleichgültig, jetzt muss ich mich, sozusagen als Chefeinkäufer für meine Feuerzangenbowle-Fraktion, ausgiebigst beraten lassen. Und dann zuschlagen. Von Siku kaufe ich aus der Farmer-Classic-Serie ein, inklusive Pferdefuhrwerk, Heuballen, Milchkannen, sechs Trecker, darunter den legendären Lanz Bulldog und den mir gänzlich unbekannten Lamborghini R 6.

Mit den Dampfmaschinen ist es dann nicht ganz so einfach. Erst mal lasse ich mir erklären, dass man mittels dieser Wunderwerke Energie erzeugen kann, und damit wiederum mechanische Abläufe in Gang setzen. Das Ganze hat was mit Industrialisierung, Revolutionierung, Mechanisierung und was-weiß-ich zu tun, jedenfalls hat’s ein Englishman namens Watt erfunden, und den Engländern haben wir schließlich auch Manchester und seine Folgen zu verdanken. Nach drei Stunden Energieerzeugen in Theorie und Praxis bin ich fix und fertig sowie außerdem um einen knappen Tausender ärmer. Dafür gehören mir (uns) eine knallrote, hochglanzpolierte D 15 mit Kettenzugpfeife, Kleinmanometer, Transmission und tausend anderen Extras. Auch der D 161 mit angebauter Werkstatt und der Personalgruppe „Maschinenarbeiter“ kann ich nicht widerstehen. Das Ding ist omnipotent: Angeschlossen und voll bedienbar sind Bohrmaschine, Schleifblock, Kreissäge und sogar die berühmte Schnurlaufrolle. Sie ist auf einen Sockel montiert und verspricht laut Packung und Verkäufer „viel Werkstatt auf wenig Raum!“.

„Old Smoky“, den Klassiker, wie man mir versichert, eine rot-grüne Dampfwalze plus Sprengwagen und der Menschengruppe „Straßenbauarbeiter“, erstehe ich ebenso. Wenn ich schon mal hier bin …

Letzteres muss der sehr einfühlsame Fachverkäufer gehört haben. „Wie finden Sie denn unser schönes Lüdenscheid?“ Au Backe, denke ich, als mir prompt das doch etwas trübe Stadtbild draußen einfällt. Gottlob ist der Verkäufer an einer Antwort nicht wirklich interessiert. Mein Spielzeug lasse ich dann ins Hotel Brauhaus Schillerbad, einer ehemaligen städtischen Badeanstalt, in der Alstadt liefern. Also gut, dann erkunde ich Lüdenscheid doch noch ein bisschen.

Ungefährlich ist das allerdings nicht. Vor dem interaktiven Experimentiermuseum Phaenomenta warnt ein Schild „Vorsicht! Lebensgefahr!“ Es stellt sich heraus, dass es hier andauernd kracht, blitzt und funkt, weil Kinder in diesem Museum die Schrecken vor der doofen Physik verlieren sollen. 130 mögliche Experimente machen das Gebäude zu einer veritablen Mischung aus Hörsaal und Schießbude. Wem das zu technisch ist, der macht sich besser auf den Weg zum „Lachclub“, wo Kordula und Helmut Lütringhaus Lachen lehren nach Dr. Kantaria. Kultur à la Lüdenscheid wird auch dargeboten in einer sehr freien Adaption des Freischütz unter dem Motto: „In der Hölle ist der Teufel los!“

Nach einem herzhaften Imbiss im Schnellrestaurant „Dampflok“ schickt mich der Wirt vor die Tore der Stadt zum Schloss Neuenhof. Dort könne man sich auf die Spuren des berühmtesten Sohnes der Stadt, Theodor von Neuenhaus, begeben. Der war nämlich – und wer will ihm die Flucht ins Mediterrane verdenken? – 1736 mal für ein paar Monate König von Korsika. Der Blender und Schaumschläger hatte den Korsen, die sich gegen die Genueser auflehnten, Waffen und alles Mögliche versprochen. Als „König eines Sommers“ wurde das westfälische Windei gar zum „Medienstar“: Voltaire schrieb über ihn in seinem „Candide“, und Giovanni Paisiello verewigte ihn in einer Oper. Sapperlot, die Sauerländer! Ein paar Museen habe ich auch noch entdeckt, die schon aufgrund ihrer Thematik eine Menge über den Lüdenscheider an sich und im Allgemeinen erzählen. Wo sonst fände man ein Schmiedemuseum mit dem hübschen Namen „Bremecker Hammer“? Wo, wenn überhaupt, ein Deutsches Drahtmuseum („Vom Kettenhemd zum Supraleiter“), in dem man „Drahtziehen am historischen Schockenzug“ betreiben darf? Dieser Wallfahrtsort für Freunde des Drahts befindet sich allerdings in Altena, einer vorgelagerten Gemeinde des sauerländischen Zentrums Lüdenscheid. Dort thront übrigens auch seit 1912 die allererste Jugendherberge der Welt, seinerzeit gegründet vom Wandervogel Richard Schirrmann.

Zurück nach Lüdenscheid. Ich finde heraus, dass L. sich auf 86,73 Quadratkilometer ausbreitet und die Hälfte davon bewaldet sein soll. Es liegt 232 Meter über dem Meeresspiegel und der Homert, sein Hausberg, ragt 539 Meter über Normalnull. Das mit dem Wald mag ich kaum glauben, bei der dichten, zugebauten Innenstadt. So undurchdringlich und verrammelt scheint das Gassen- und Wegegewirr, dass die Verwaltung einen nächtlichen Rundgang unter Führung offeriert, „stadtbildprägende Gebäude extra lichttechnisch in Szene gesetzt“, wie ein Plakat verspricht, und das ganze zum besseren „Durchblick für die Bürger!“

Da mache ich mit. Und sehe Lüdenscheid jetzt mit anderen Augen. Zumal man hier auch erfährt, dass der Lichtbildner Wolfgang Büld ein Sohn der Stadt sei, Regisseur immerhin von „Manta, Manta“. Auch habe der Tonsetzer Kurt Weill sich vom Fluidum Lüdenscheids Inspiration und Anregung erhofft und zwei Jahre seines Lebens in Lüdenscheid gewerkt und gewohnt. Letzteres erklärt vielleicht den bis heute unergründlichen Ausspruch Berthold Brechts, als er die dissonante Rohfassung der Dreigroschenoper zum ersten Mal hörte: „Das klingt ja wie Lüdenscheid ganz unten!“, soll er gebrüllt haben damals. Na ja , Brecht …

Reisen bildet. Gegen Abend suche ich noch im Telefonbuch der Stadt nach einem Restaurant, gebe aber auf, als ich unter dem Rubrum „Internationale Küche“ den fettgedruckten Eintrag des Etablissements „Frittencenter“ finde. Und nicht nur das. Eine ganz spezielle Lüdenscheider Spezialität ist Verkehrsregelung per Telefonbuch: Hübsch fotografierte und farbunterlegte Anzeigen verraten „Achtung, hier wird geblitzt!“ Potztausend, so spart man am Schilderwald und fertigt aus dem gesparten Blech lieber Dampfmaschinen und kleine Trecker.

Thomas Brandt

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