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Westjordanland: Das Ramallah-Syndrom

Ringsherum: Wüste, Steine, Ödnis und eine Mauer. Mittendrin: Eine boomende Stadt, die Business und Party macht – und in die einzige Richtung wächst, die übrig bleibt, wenn man eine Insel ist: nach oben

Die Menschen schreien. Sie klatschen, sie tanzen. Von den umliegenden Steinhäusern hallen die Bässe wider; die Palmen biegen sich im aufziehenden Wind.

Es ist ein lauer Sommerabend in Ramallah und der Platz in der Innenstadt ist voll mit Palästinensern und Gesichtern aus aller Welt; ein Straßenkonzert, das gibt es sonst nicht im Westjordanland.

Die Band beschleunigt den Rhythmus, der Sänger singt den Klassiker „Ween a Ramallah“. Es geht um eine eifersüchtige Frau, die ihren Mann fragt, wohin er wolle. Und er sagt: nach Ramallah. Sie hat Angst, dass er den Reizen der Stadt verfällt. Der Sänger ruft: Wohin? Das Publikum schreit zurück: Nach Ramallah!

Ramallah, frei übersetzt die „Anhöhe Gottes“, strebt nach oben, in die einzig mögliche Richtung, wenn man von einer Mauer umgeben ist.

Hier, wo es liberaler und offener zugeht als im Rest der israelisch besetzten Gebiete, lebt Seba Daqa. Frauen wie sie trifft man sonst kaum im Westjordanland. Die junge Frau in Jeans hat Wirtschaftswissenschaften studiert und ist seit zwei Monaten als „Field Officer“ für eine der vielen Nichtregierungsorganisationen tätig. Sie hilft Palästinensern, die ihre Häuser und Wohnungen verloren haben, zum Beispiel durch Abriss. Auf ihrem Schreibtisch liegt eine Ausgabe der Genfer Konventionen, an den Wänden ihres Büros hängen Karten von Checkpoints und dem Verlauf der Mauer, die das Westjordanland von Israel trennt. Die Fenster vibrieren von den Bässen des Soundchecks. Das Konzert geht gleich los. Seba Daqa zieht sich Ohrringe an, die bei jeder Bewegung klimpern. Dann schnappt sie sich ihre Zigaretten und „yallah!“, los geht’s.

Es ist Donnerstag, Wochenende in der arabischen Welt. In Ramallah heißt das: ausgehen.

Ramallah, Zentrum des Westjordanlands und mögliche Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates. Um die 27 000 Einwohner, zehn Kilometer nördlich von Jerusalem. Im Gegensatz zur muslimischen Zwillingsstadt Al Bireh, bekommt man im zum Teil christlichen Ramallah Alkohol – Grundlage jedes pulsierenden Nachtlebens – in dem auch Frauen in Bars gehen, Bier trinken.

Während der zweiten Intifada erlangte Ramallah traurige Berühmtheit, als hier zwei israelische Soldaten vor laufender Kamera ermordet wurden. Die israelische Armee besetzte Ramallah, schloss Schulen, verhängte Ausgangssperren. Fünf Jahre später, 2005, unterzeichneten der damalige israelische Premier Ariel Scharon und Mahmut Abbas einen Waffenstillstand. Heute ziehen Menschen aus dem ganzen Westjordanland und viele Ausländer nach Ramallah, die das Gefühl einer Stadt aufsaugen wollen, die gerade versucht, ihr Profil zu finden.

Auf dem Konzert flirtet Seba Daqa mit dem Tontechniker. Sie fährt sich mit der Hand kokett durchs kurze, braune Haar – er nimmt den Blick nicht von ihr. Dann ruft sie wie der ganze Platz: Wohin? Nach Ramallah! Kinder tanzen zur Musik, Männer, Frauen mit und ohne Kopftuch.

Yallah, yallah, weiter geht’s, wie die Töne verschwindet auch Seba Daqa in den Abend, rast mit ihrem Auto durch Ramallah, in jeder Kurve bremst sie so spät wie möglich, als fürchte sie den Stillstand. Sie fährt vorbei an zahllosen neuen Gebäuden, die unfertig in die Luft ragen. Stahlgerüste, Lastenaufzüge, Betonmischer, dazwischen ein alter Araber mit seinem Esel. Banken, Handelszentren, Ramallahs erstes Fünfsternehotel und derart viele Appartementhäuser, als wären sie vom Himmel gefallen, ein palästinensisches Tetris.

Die wirtschaftliche Wiederbelebung wird Salam Fayyed zugeschrieben, dem Premier der Palästinensischen Autonomiebehörde. Die Palästinenser werden nicht müde, ihn für mehr Sicherheit, neue Einrichtungen und Transparenz zu preisen. Nicht zu vergessen das Geld der Geberländer: Allein die Europäische Union hat der Autonomiebehörde 349 Millionen Dollar für 2010 bereit gestellt. Als „unglaublich“ beschreibt Rani Duod von der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) die Entwicklung in der Stadt. Das Nachtleben spiegelt das Tagwerk. Banken, die sich in Ramallah niederlassen, seien vornehmlich damit beschäftigt, Kredite zum Immobilienerwerb zu vergeben; dabei müsste Geld dringend in Infrastruktur, Kanalisation oder Landwirtschaft gesteckt werden. „Wenn es so weitergeht“, sagt Duod, „dann stehen die Behörden bald vor einer ernsten Herausforderung.“ Das Dachgeschoss wächst schneller, als das Fundament gegossen werden kann.

Ramallah wächst also, und neuerdings gibt es Straßennamen. Und sogar Verkehrspolizisten, die Strafzettel verteilen. Seba Daqa rauscht durch die Al-JihadStreet, die Straße des Kampfes. Vorbei an dem Ort, an dem sie Salsakurse gegeben hat. Das ist eigentlich ihr Traum: eine Tanzschule. Aber Salsa in Westjordanland? Noch nicht mal in Ramallah. Berührungen und Küsse sind in der arabischen Öffentlichkeit undenkbar. So organisierte sie Räume und Tanzlehrer – am Ende kamen 40 Leute, um die Hüften so zu bewegen, wie sie es auf der Straße nie wagen würden. Darunter Frauen mit Kopftuch, dem Hijab. „Eine davon habe ich letztens auf dem Markt getroffen“, erzählt Seba, „ohne Kopftuch.“ Da habe sie gratuliert, sagt sie, und die andere habe geantwortet, es sei der richtige Schritt. Und damit ist sie nicht alleine im Stadtbild von Ramallah: Immer mehr Frauen legen den Hijab ab, den Seba Daqa selbst nie trug. Ihre Mutter, erzählt sie, habe ihr immer gesagt: Du musst mutig sein.

Seba Daqa parkt ihren Wagen vor einem der Neubauten in Ramallah und begrüßt einen jungen Mann in Jeans und orangefarbenem Pulli: Ashraf Aqa, Gastronom. Seba Daqa will sich seine neue Bar anschauen. Die Bar soll André heißen; es ist Aqas zweite. In ein paar Wochen will er aufmachen. Er schreitet den Raum ab: schwarzweiße Möbel, ein Kamin, Fliesenboden, sein Versuch, westlichen Chic zu imitieren. „Das Geschäft läuft gut“, sagt Aqa. Der Zustrom nach Ramallah bereitet fruchtbaren Boden für das Gastronomiegewerbe. Überall eröffnen neue Bars und Restaurants, sagt Aqa. Auf dem Amt lägen 70 Anträge für Lizenzen. Selbst Szenekenner kommen nicht hinterher, sich die Namen und Adressen zu merken.

Ashraf Aqa kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt im Westjordanland zu wohnen. Hier seien die Leute am liberalsten. Ramallah erzeuge ein kosmopolitisches Gefühl, was sich für Ashraf Aqa in Kundschaft übersetzt. „Business“, sagt er, Handel und Wandel. Er zuckt mit den schmalen Schultern. In Ramallah hängen auch keine Poster von Märtyrern wie in den Städten Nablus oder Jenin. Nur wenige Kilometer nordwärts gelegen, gelten diese Orte immer als Heimat von terroristischen Zellen.

Die Sonne geht unter, ein kühler Wind kommt auf und verdrängt die letzte Tageshitze. Am Rande der Stadt treffen sich jetzt die Pärchen in aller Heimlichkeit. Im Westen liegt Tel Aviv, und wenn die Sicht klar ist, können Ramallah-Bewohner wie Seba Daqa und Ashraf Aqa das Meer sehen, dort schwimmen können sie nicht. Die Küste ist zwar nur 15 Kilometer entfernt, aber sie gehört Israel, das ihre kleine Inselwelt unüberwindlich umgibt. „Ich vermisse das Meer“, sagt Aqa, und kurz verdrängt dieses traurige Bekenntnis seine Freude am „Business“.

Dann jagen die jungen Leute weiter. Daqas Auto schießt durch die hügeligen Straßen Ramallahs immer tiefer hinein in die Nacht, sie haut die Gänge ins Getriebe und kramt sich eine Zigarette hervor. Und wenn es mal nicht weiter geht, und es geht meist nicht weiter in Ramallah, dann ruft sie: Yallah! Yallah!

Tiefschwarzer Kaffee in einer traditionellen Teestube, ein arabischer Wachmacher für die nächsten Stunden. Eigentlich sind hier keine Frauen erlaubt, aber auch nicht so verboten, dass sie nicht Zutritt bekämen, wenn sie ihn verlangen. Seba Daqa wirkt entspannt und handelt beiläufig. Doch gerade diese Beiläufigkeit, zu tun, was sie möchte, koste Kraft, sagt sie. Sie kennt Frauen, denen die Freunde noch nicht mal das Ausgehen erlauben.

Nächste Station: Snowbar. Sofas, Ottomanen, ein Billardtisch zwischen Zypressen und Zedern unter freiem Himmel. In der Mitte brennt ein Lagerfeuer, später werden hier die Tische zur Seite geräumt, und es wird getanzt. Es gibt lokal gebrautes Bier zu westlichen Preisen. Und bald ist es hier so voll, dass mehr Leute stehen als sitzen. Seba Daqa küsst links, küsst rechts, Small Talk mit Freunden: Der Service hier wird auch immer schlechter. Ein paar Tische weiter sitzen junge Araber, samt Schwester und Mutter komplett in Schwarz gehüllt. Der Mutter wird eine Nargila, eine Wasserpfeife, serviert. Sie inhaliert ein paar Züge. Eigentlich dürften auch sie nicht hier sein, nicht in der Nähe von Alkohol. „Haram“ ist das, verboten. Im Gazastreifen ist Frauen auch die Wasserpfeife verboten, nach Ansicht der radikalislamischen Hamas schade Pfeiferauchen der Ehe.

Das expandierende Nachtleben, die wachsende Stadt, das alles hat auch seinen Preis. Über 15 Prozent sind die Lebenshaltungskosten in den vergangenen drei Jahren gestiegen. Die Löhne haben sich unterdessen nicht verändert. Eine Bedienung verdient hier pro Stunde um die zehn Shekel, umgerechnet zwei Euro, ein Bier kostet meistens 15 Shekel.

Nicht weit entfernt von Arafats Grab drängen sich die Nachteulen im Beit Aneeseh, Ramallahs neuestem Ausgehzentrum: eine Restaurant-Bar, minimalistisch stilsicher gestaltet. An der schwarzen Bar schenkt der Mixer eine Reihe von Kurzen aus. Im Stimmengewirr sagt einer: Also, wenn die Mauer nicht wäre, könnte man denken, man sei in Berlin. Auch wenn hier keine Betrunkenen durch die Straßen torkeln.

Die Kellnerinnen schieben sich durch die Menschmengen, machen unvermittelt Pause, zünden sich eine Zigarette an, flirten mit den Gästen – dass palästinensische Frauen als Kellnerinnen arbeiten, ist immer noch eine Seltenheit in der arabischen Welt.

Eine junge Niederländerin, Jetske Koyt, arbeitet auch hier. Sie ist wegen eines Forschungsprojektes gekommen, dann wollte sie den Alltag in Ramallah erleben, dieses dynamische Gefühl einer Stadt, die nach oben strebt, aber auch tief fallen könnte. Dieses Tanzen-auf-dem Vulkan-Gefühl. Sie nennen es: Ramallah-Syndrom. „Alles scheint in Ordnung“, sagt Jetske Koyt. „Die Leute feiern und freuen sich. Aber plötzlich, um die Ecke, da sind die Checkpoints, die Mauer, die israelischen Soldaten.“ Das Nachtleben Ramallahs als eingesponnener Kokon.

Je später die Stunde, desto politischer die Gespräche. „Wir brauchen mehr Produktivität, mehr Parks, mehr Freizeitangebote“, sagt eine junge Palästinenserin. Brauchen sie auch einen Staat? Gelegentlich hört man das Wort „Revolution“ und oft die Sorge, der Ramallah-Boom sei eine Blase, die platzen könnte. Dann wird aus der Nacht neuer Morgen.

Seba Daqa steigt in ihr Auto. Die chronisch verstopften Straßen werden auf ihrem Heimweg frei vor ihr liegen. Das Leben jetzt bietet ihr mehr Freiheit, aber die ist auch anstrengend. Sie tritt aufs Gas und fährt davon. Diesmal ohne Yallah.

Lesen Sie in der nächsten Folge von einer Insel im Straßenmeer: der Avus-Raststätte

Fredy Gareis

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